Lerninhalte in Deutsch
BLF-Aufgaben

Thema 2

Textgebundene Erörterung

Thema:
Axel Hacke: Anstand (2017)
Aufgabenstellung:
  • Erörtere die Bedeutung des Anstands für die Gesellschaft. Fasse dafür die Kernaussagen des Verfassers zusammen.
  • Setze dich insbesondere mit der These Knigges auseinander, man sei „allen Arten von Menschen“ die Pflicht des Anstandes schuldig.
Material
Anstand
Axel Hacke
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Über das Anständigsein habe ich, ehrlich gesagt, nie besonders nachgedacht, es
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war mir immer etwas selbstverständlich Gutes.
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Anständig zu sein bedeutet, so fand ich, Rücksicht auf andere zu nehmen, und
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zwar auch dann, wenn einem gerade nicht unbedingt danach zumute ist, also: in
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der Trambahn für ältere Menschen aufzustehen, auch wenn man selber müde ist;
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einen kranken Freund zu besuchen, auch wenn man eigentlich keine Zeit hat; sich
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in einer Schlange nicht vorzudrängeln, auch wenn man es eilig hat...
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Einfach Dinge, zunächst.
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Sich nicht selbst in den Vordergrund zu stellen, sondern zu bedenken, dass andere
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Menschen nicht weniger Rechte im Alltag und im Leben haben als ich. Nach Mög-
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lichkeit zu überlegen, welche Folgen das eigene Verhalten für andere haben kann.
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Sich an die Regeln auch dann zu halten, wenn gerade keiner guckt. Ich empfand
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es immer als großes Lob, wenn jemand über einen anderen sagte: Das ist ein an-
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ständiger Kerl. Offen gestanden glaubte ich, dass die meisten Menschen ein Ge-
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fühl dafür in sich tragen, einen gewissen Sinn dafür, wie es ist, nicht allein auf der
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Welt zu sein, und was man dafür tun muss, dass man vernünftig mit anderen zu-
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sammenlebt.
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Ich glaube es immer noch.
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Aber es kommen Zweifel.
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Es schwappt ja seit einer Weile nicht bloß eine Woge der Anstandslosigkeit um
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die Welt – es tobt ein Ozean. [...]
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Wir haben in vielerlei Hinsicht das Gefühl dafür verloren, was es bedeutet, eine Ge-
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sellschaft zu sein, zusammenzugehören, sich auseinanderzusetzen, wir haben so
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oft kein Ideal mehr davon, was es bedeutet, ein Bürger zu sein, wir sind getrieben
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von der technischen Entwicklung, von der Nötigung zur ständigen Selbstdarstellung,
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von diffusen Ängsten, die wir uns einerseits nicht eingestehen oder andererseits
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total übertreiben. Wir sind hysterisch, wo wir nüchtern sein müssten, und unauf-
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merksam, wo wir wachsam sein sollten. [...]
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Menschen können nur im Zusammenleben mit anderen existieren, und diesem Zu-
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sammenleben gilt es, Aufmerksamkeit zu schenken. Unsere Gesellschaft tendiert
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dazu, das zu vergessen. Wir ziehen uns in die Sicherheit der eigenen sozialen
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Schicht zurück. Wir verlieren uns in der Arbeit an der eigenen Performance. Wir
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basteln immerzu am Ego und viel zu selten am Wir. [...]
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Schrieb nicht Knigge über den Umgang mit Menschen, er müsse auf den „Lehren
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von Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind“?
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[...] Und „allen Arten von Menschen“, bitte, das gefällt mir besonders: dass nicht
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nur von denen die Rede ist, die uns ähnlich sind, die wir mögen, mit denen wir
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sympathisieren, die unsere Ziele teilen, die ein Leben lang führen, das aussieht wie
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unseres. Sondern auch von den Feigen, den Verängstigten, den Unverschämten,
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den Dummen, den Lauten, den Leisen, den Störrischen, den Fremden, denen wir
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etwas schulden. Was schulden wir ihnen? Jedenfalls den Versuch, zu verstehen,
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Anerkennung, Rücksicht, Wohlwollen, Freundlichkeit, Interesse, Zugewandtsein
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und jene Solidarität, die Grundlage dessen ist, was wir den menschlichen Anstand
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nennen könnten. Der eine Sache jedes Einzelnen ist und damit eine Sache von uns
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allen.

Aus: Axel Hacke: Über den Anstand in schweren Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen.
Verlag Antje Kunstmann: München 2017.