Lerninhalte in Deutsch
BLF-Aufgaben

Thema 2

Textanalyse

Thema:
Iris Eggerdinger, Sven Hasselberger: Wozu brauchen wir noch Märchen? (2007)
Aufgabenstellung:
  • Analysiere den vorliegenden Text. Untersuche diesen hinsichtlich seiner wesentlichen Inhalte und seiner Struktur.
  • Beschreibe dabei ausgewählte sprachliche Gestaltungselemente in ihrer Funktion.
Material
Wozu brauchen wir noch Märchen? (2007)
Iris Eggerdinger, Sven Hasselberger
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Harry Potter schlägt Zwerg Nase, die Hobbits vergraulen die sieben Zwerge, und
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Bibi Blocksberg lockt mehr Kinder hinter dem Ofen hervor als Rotkäppchen und
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Schneewittchen zusammen. Trotzdem empfehlen Pädagogen die Lektüre von Mär-
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chenklassikern zur Fertigung der kindlichen Psyche.
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Kassenschlager wie „Harry Potter“ und „Der Herr der Ringe“ bedienen sich mär-
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chenhafter Elemente und schwimmen damit auf der Erfolgswelle. Doch streng ge-
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nommen gelten sie nicht als Märchen. Experten weise darauf hin, dass Klassiker
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auch ohne Turbohexenbesen und millionenschwere Verkaufshile aus Hollywood
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einiges zu bieten haben. Heinrich Dickerhoff, Präsident der Europäischen Märchen-
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gesellschaft, wünscht sich, dass auch alte Märchen in den Klassenzimmern und
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Kinderherzen wieder Einzug halten. Die überlieferten Erzählungen erfüllen nicht
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nur als Gute-Nacht-Geschichten eine wichtige Funktion.„Märchen sind sprachli-
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che Kostbarkeiten“, erklärte Dickerhoff, „diese Texte bereichern den Wortschatz
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enorm.“ Die Brüder Grimm selbst wollten schon im Vorwort zur ersten Auflage
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ihrer „Kinder-und Hausmärchen“ ihr Werk eindeutig als „Erziehungsbuch“ ver-
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standen wissen. Aus dieser Art pädagogischer Ratgeber sollten die Leser Moral-
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lehren ziehen.
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Kinder lesen Märchen gerne und verstehen sie problemlos, weil sie einem einfachen
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Muster folgen: Sie sind oft kurz, besitzen einen einsträngigen Handlungsverlauf
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und gehen gut aus. Die heiße Diskussion der siebziger Jahre um Grausamkeiten
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wie das Abhacken der Ferse in „Aschenputtel“ ist heute vergessen. Fachleute wis-
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sen, dass Kinder bis zum Beginn der Pubertät einen ganz natürlichen Zugang zur
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Symbolsprache der Märchen finden. Die Trennung von den Eltern in „Hänsel und
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Gretel“ sei für viele Kinder weitaus realer und Angst einflößender als das Verbren-
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nen der Hexe, meint Brigitta Schieder, Seminarleiterin und Erzählerin der Europä-
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ischen Märchengesellschaft. Die Märchenpädagogin und Logotherapeutin bringt El-
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tern, Lehrern und Erziehern die Kunst des Märchenerzählers bei. Wenn Märchen
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altersgerecht präsentiert werden, interessieren sich auch Jugendliche noch dafür.
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Hauptschullehrer Walter Kohlhauf komponierte und textete mit einer siebten
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Klasse ein Musiktheater zum norwegischen Volksmärchen „Die Zottelhaube“.
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„Zuerst dachten einige, Märchen seien etwas für Kleinkinder“, erinnert sich der
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Pädagoge, „doch nach wenigen Minuten war der Bann gebrochen.“ Es geht um
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zwei Schwestern, die eine bildschöne, die andere eine hässliche „Zottelhaube“.
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Während die Hässliche beim Julfest die Trolle jagt, reißt die böse Trollhexe der
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Schönen den Kopf ab und setzt ihr einen Kalbskopf auf. Die mutige Zottelhaube
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rettet dann die Schwester...Eine Story, die sich höchst kreativ darstellen lässt.
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Und in der anschließenden Diskussion können die Werte der Geschichte wie
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Freundschaft und Solidarität behandelt werden.
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Eine Allensbach-Umfrage dokumentiert, dass sich 81 Prozent der Befragten noch
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an mindestens drei Märchen aus ihrer Kindheit erinnern. Ganz vorn in der Hit-
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parade stehen „Schneewittchen“ und „Hänsel und Gretel“. 83 Prozent der Erwach-
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senen befürworten es, Kindern auch heute noch Märchen zu erzählen.
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Leider sieht die Praxis oft anders aus. Immer weniger Kinder lesen die klassischen
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Märchen, und auch die Eltern wissen kaum mehr etwas darüber. Fachfrau Schie-
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der: „Die Kinder kennen jeden Pokémon besser als Rapunzel.“
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Märchen transportieren Inhalte kindgerecht, leisten Lebenshilfe und tragen dazu
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bei, dass auch anderer Unterichtsstoff verständlich wird. Beispielsweise kann
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eine Lehrerin im Sachkundeunterricht anhand der verirrten Geschwister Hänsel
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und Gretel anschaulich erklären, wie man sich allein in der Natur zurechtfinden
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kann: Auf welcher Seite des Baumes wächst das Moos? Wo steht der große Wagen
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am Himmel? Wo geht die Sonne auf wo geht sie unter?
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Auch Eltern ausländischer Kinder sind bei Seminarleiterin Schieder willkommen.
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Sie werden zunächst gebeten, ein Märchen in ihrer Muttersprache zu erzählen.
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Daraufhin wiederholen sie es auf Deutsch. Erstaunlich sei, dass die Kinder auch
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gespannt zuhören, wenn die Mutter Türkisch oder Arabisch spricht. Auf diese
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Weise finde Integration ihren Weg mit Hilfe von Feen, Zauberern und Königen
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auf den Stundenplan. [...]

Aus: Magazin SCHULE, 2007; https://www.focus.de/familie/kinderspiele/wozu-brauchen-wir-noch-
maerchen-literatur_id_2287144.html, zuletzt aufgerufen am 11.11.2019.