Lerninhalte in Deutsch
BLF-Aufgaben

Thema 1

Interpretation eines literarischen Textes

Thema:
Wolfdietrich Schnurre (* 1920– † 1989): Die Prinzessin (1980)
Aufgabenstellung:
  • Interpretiere den vorliegenden Text. Erschließe dabei den Sinngehalt des Textes.
  • Verdeutliche weiter den Zusammenhang zwischen inhaltlicher und formaler Gestaltung.
Material
Die Prinzessin
Wolfdietrich Schnurre
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Ein Käfig; auf, ab, trottet es drin, auf, ab; zerfranst, gestreift: die Hyäne. Mein
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Gott, wie sie stinkt! Und Triefaugen hat sie, die Ärmste; wie kann man nur mit
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derart grindigen Blicken überhaupt noch was sehen? Jetzt kommt sie zum Gitter,
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ihr Pestatem trifft mich am Ohr. „Glauben Sie mir?“ „Aufs Wort“, sage ich fest.
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Sie legt die Pfote ans Maul: „Ich bin nämlich verzaubert.“ „Was Sie nicht sagen;
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richtig verzaubert?" Sie nickt. „In Wirklichkeit nämlich – “ „In Wirklichkeit näm-“
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„lich –? bin ich eine Prinzessin“, haucht sie bekümmert. „Ja, aber um Himmels
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willen!“ rufe ich, „kann Ihnen denn da gar keiner helfen?“ „Doch“, flüstert sie;
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„die Sache ist so: Jemand müßte mich einladen.“ Ich überschlage im Geist
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meine Vorräte; es ließe sich machen. „Und Sie würden sich tatsächlich verwandeln?“
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„Auf Ehre.“ „Also gut“, sage ich, „dann seien Sie heute zum Kaffee mein Gast.“
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Ich gehe nach Hause und ziehe mich um. Ich koche Kaffee und decke den Tisch.
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Rosen noch aus dem Garten, die Cornedbeef-Büchse spendiert, nun kann sie
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kommen.
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Pünktlich um vier geht die Glocke. Ich öffne, es ist die Hyäne. „Guten Tag“, sagt
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sie scheu: „Sie sehen, da bin ich.“ Ich biete ihr den Arm, und wir gehen zum Tisch.
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Tränen laufen ihr über die zottige Wangen. „Blumen –“ schluchzt sie, „o je!“
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„Bitte“, sage ich, „nehmen Sie Platz. Greifen Sie zu.“ Sie setzt sich geziert und
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streicht sich geifernd ein Brötchen. „Wohl bekomms“, nicke ich. „Danke“, stößt
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sie kauend hervor.
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Man kann Angst bekommen, was sie verschlingt. Brötchen auf Brötchen ver-
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schwindet; auch die Cornedbeef-Büchse ist leer. Dazwischen schlürft sie schmat-
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zend den Kaffee und läßt erst zu, daß ich ihr neuen eingieße, wenn sie den Rest
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herausgeleckt hat. „Na–?“ frage ich, „schmeckt es?“ „Sehr“, keuchte sie rülpsend.
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Doch dann wird sie unruhig. „Was ist denn“, erkundige ich mich. Sie stößt aber-
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mals auf und blickt vor sich nieder; Asgeruch hängt ihr im Fell, rötliche Zecken
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kriechen ihr über die kahlen Stellen hinter den Ohren. „Nun –“ ermutige ich sie.
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Sie schluchzt. „Ich habe Sie belogen“, röchelt sie heiser und dreht hilflos einen
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Rosenstiel zwischen den Krallen; „ich – ich bin gar keine Prinzessin.“ – „Schon
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gut“, sage ich, „ich wußte es längst.“

(Der Text folgt in Orthografie und Zeichensetzung dem Original.)
Aus: Wolfdietrich Schnurre. Das Los unserer Stadt. Eine Chronik. Taschenbuchausgabe. Frankfurt/M.,
Berlin, Wien: Ullstein 1980.