Thema 1
Interpretation eines literarischen Textes
Thema: Gerhard Branstner (* 1927- † 2008): Wer den Mörder verschont, wird mit Leichen belohnt Aufgabenstellung- Interpretiere den vorliegenden Text. Ordne dabei den Text einem literarischen Genre zu und begründe deine Entscheidung.
- Erschließe den Sinngehalt des Textes und verdeutliche hier den Zusammenhang zwischen inhaltlicher und formaler Gestaltung.
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Der Wolf war in eine tiefe Grube gestürzt und rief um Hilfe. Das hörte ein Lamm,
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und weil der Wolf ihm leid tat, suchte es eine lange Wurzel, an der sich der Wolf
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aus der Grube zog. Statt sich bei dem Lamm zu bedanken, fiel er sogleich
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über es her, um es zu fressen.
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Das Lamm zeterte laut über die Undankbarkeit des Wolfes, der Wolf aber setzte
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dagegen, dass es widersinnig sei, gerettet zu werden, um dann Hungers zu sterben.
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Diese Antwort verwirrte das Lamm, und als ein kleiner Hund daherkam, bat das
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Lamm ihn, die Sache zu entscheiden.
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Der wird schon wissen, was ihn erwartet, wenn er nicht für mich stimmt, dachte
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der Wolf und war damit einverstanden, dass der Hund den Richter machte.
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Der Hund überlegte eine Weile, dann sagte er: Wer einen Wolf rettet, verdient
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auch, von ihm gefressen zu werden. Und damit stieß der Hund das Lamm in die
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Grube.
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Der Wolf bedankte sich für den klugen Richterspruch, sprang dem Lamm nach
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und machte sich über es her.
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Du musst sterben, sagte der Hund zu dem Lamm, damit deinesgleichen am Leben
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bleibt! Und flugs zog er die Wurzel aus der Grube und zerbiss sie in kleine Stücke.
Aus: Gerhard Branstner: Der Esel als Amtmann. Buchverlag der Morgen: Berlin 1997, S. 6.
Einleitung
- Der vorliegende Text Wer den Mörder verschont, wird mit Leichen belohnt von Gerhard Branstner erschien 1997 in seinem Werk Der Esel als Amtmann.
- Der Titel bezieht sich durch seine Wortwahl („Mörder“ und „Leichen“) einerseits auf das Genre des Krimis. Andererseits aber wird das ernste, düstere Thema durch den Reim („verschont“ / „belohnt“) auf gewisse Art aufgelockert und spielerisch bzw. humorvoll bewertet.
- Dieser scheinbare Widerspruch innerhalb des Titels macht den Leser neugierig auf den Inhalt des Textes.
Hauptteil
- Formal betrachtet fällt bei dem vorliegenden Text als erstes die kurze Länge von nur 17 Zeilen ins Auge. Außerdem lässt sich im Text kein Reimschema feststellen. Er ist in Prosaform aufgebaut.
- Inhaltlich handelt es sich bei dem Text um eine Erzählung einer fiktiven Handlung, also ein episches Werk.
- Genauer gesagt kann der Text als Fabel eingeordnet werden:
- Hierfür sprechen die knappe Textlänge und die leicht verständliche Sprache.
- Außerdem finden sich die für eine Fabel charakteristischen, stereotypen Tiere (Wolf, Lamm und Hund), die mit menschlichen Eigenschaften in einer fiktiven Geschichte auftreten.
- Der Aufbau ist typisch für das Genre in Vorgeschichte, Konflikt und Lösung aufgeteilt.
- Auch die Einheit von Ort und Zeit liegt vor, die Handlung ist in sich geschlossen.
- Zu guter Letzt beinhaltet der Text, wie bei Fabeln üblich, eine moralische Botschaft.
- In einer Art Vorgeschichte beschreibt der Autor das Zusammentreffen des bösen, hinterlistigen Wolfs mit dem schwachen, naiven Lamm, das ihn voller Mitleid mit einer Wurzel aus seiner Notlage in einer Grube rettet.
- Anstatt dankbar zu sein, will der Wolf das Lamm direkt nach seiner Rettung fressen, worauf das Lamm überrascht und hilflos reagiert. Bis auf lautes Zetern (Vgl. Z. 5) kann das Lamm dem großen Wolf nichts entgegensetzen.
- In indirekter Rede erklärt der Wolf dem Lamm „dass es widersinnig sei, gerettet zu werden, um dann Hungers zu sterben“ (Z. 6-7). Es wird deutlich, dass der Wolf keinerlei Scheue zeigt und die Situation für das schwache Lamm ausweglos ist.
- Verwirrt und hilflos bittet das Lamm einen kleinen, vorbeikommenden Hund darum, den Konflikt zu lösen und eine Entscheidung zu treffen. Weil dieser als „klein“ (Z. 7) und damit ebenfalls recht machtlos beschrieben wird, fürchtet sich der Wolf nicht vor ihm und stimmt zu.
- Der Wolf ist sich sicher, dass der Hund die Machtverhältnisse genau wahrgenommen hat und aus Angst für ihn entscheiden wird. Dieser selbstsichere, fast schon überhebliche Gedanke wird mit einer Alliteration betont: „Der wird schon wissen, was ihn erwartet, wenn er nicht für mich stimmt“ (Z. 9)
- Am Höhepunkt der Spannungskurve überlegt der zu Rate gezogene clevere Hund schließlich lange und befindet dann in wörtlicher Rede: „Wer einen Wolf rettet, verdient auch, von ihm gefressen zu werden“ (Z. 11-12).
- Um seine überraschende Aussage zu betonen, stößt der Hund das schwache Lamm in die Grube, aus der es sich nicht retten kann, und erteilt ihm damit vollends das Todesurteil. Dies stellt den Wendepunkt der Handlung dar.
- Der eitle Wolf hinterfragt die Entscheidung des Hundes nicht, da es ihm ja von Anfang an als einzig richtige, „kluge“ (Z. 14) Lösung erschien. Er bedankt sich und springt, ohne über die Folgen nachzudenken, ebenfalls in die Grube, um das Lamm zu fressen. Dass er aus der Grube, wie schon zuvor, alleine nicht herauskommen wird, ist ihm vor lauter Gier nicht bewusst.
- Der Hund hat damit genau sein Ziel erreicht: den bösen Wolf in die Falle zu locken. Denn indem er die Wurzel aus der Grube zieht und zerbeißt, erteilt er auch dem „Mörder“ das Todesurteil.
- Der Hund nämlich hat viel weiter gedacht und den gefährlichen Wolf dauerhaft ausgeschaltet. Er erklärt dem Lamm: „Du musst sterben, damit deinesgleichen am Leben bleibt!“ (Z. 16-17). Das Ausrufezeichen betont dabei die Wichtigkeit dieser Aussage.
- Als Fazit also kann man ziehen, dass der Hund das Lamm nicht für seine naive Rettung des Wolfs zu Tode verurteilt hat, sondern dass er das eine Lamm geopfert hat, um viele andere vor dem Raubtier zu beschützen. Mit Rückbezug auf den Titel wurde der Mörder also nicht verschont, sondern verurteilt, um weitere Leichen zu verhindern.
Schluss
- Der Text wirft auf verständliche, fast schon spielerische Art und Weise die moralische Frage auf, inwieweit ein Mensch geopfert werden darf, um weitere Menschenleben zu retten.
- Wiegt die eventuelle Rettung vieler wirklich das verlorene Leben eines Menschen auf? Oder ist es moralisch verwerflich, so zu entscheiden wie der Hund in der Fabel?
- Diese Frage beschäftigt auch viele Jahre nach Erscheinen der vorliegenden Fabel viele Autoren, da eine definitive Antwort kaum zu geben ist.
- Branstner hat es mit seiner Fabel jedenfalls geschafft, zum Nachdenken anzuregen und über die Entscheidung des Hundes zu urteilen.