Lerninhalte in Deutsch
Prüfungsaufgaben (ZP10)
Inhaltsverzeichnis

Schreiben

Wahlthema 1

Thema:
Matthias Brandt: Blackbird
Aufgabenstellung:
  • Analysiere den Textauszug aus dem Roman Blackbird von Matthias Brandt.
Gehe dabei so vor:
  • Schreibe eine Einleitung, in der du Textsorte, Titel, Autor und Erscheinungsjahr benennst sowie das Thema formulierst und den Inhalt zusammenfasst.
  • Stelle Mortens Einstellung und Verhalten gegenüber seiner Mutter dar und erläutere, welche Art von Erinnerungen Morten an Steffi hat und wie er sie bei der Begegnung bei ihm zu Hause wahrnimmt.
  • Untersuche, durch welche erzählerischen Mittel das Geschehen dem Leser nahegebracht wird und durch welche sprachlichen Mittel zum Ausdruck kommt, dass Morten in der Situation mit Steffi stark von ihr beeindruckt ist (mögliche Aspekte: Wortwahl, Satzbau, stilistische Mittel).
  • Verfasse einen inneren Monolog aus der Sicht Steffis nach dem Ende der Begegnung:
    – Welche Gedanken hat Steffi, als sie noch einmal über ihre Begegnung mit Morten nachdenkt?
    – Was denkt sie darüber, wie Morten sich seit der gemeinsamen Grundschulzeit entwickelt hat?
Blackbird (Textauszug)
Matthias Brandt
1
Als ich zu Hause ankam, sah ich auf dem Dach des Hauses zwei schwarze Gestalten rumturnen. Eine
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ziemlich große und eine nur halb so große. Die Schornsteinfeger waren da. Ich schaute kurz zu, wie
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sie sich mit den an Ketten befestigten Metallkugeln, die so aussehen wie aus irgendwelchen Mittel-
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altercomics, da oben zu schaffen machten.
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Immer wieder das gleiche Spiel, ich schlich durch die Küche rein und versuchte, unbemerkt am Wohn-
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zimmer vorbeizukommen. Aber diesmal war meine Mutter schneller als ich und erwartete mich schon
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im Treppenhaus. Sie wollte mich in den Arm nehmen, ich konnte mich gerade noch herauswinden,
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weil hinter uns jemand die Treppe runterkam. Der Schornsteinfeger, den ich eben auf dem Dach
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gesehen hatte.
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„So, wir wären dann fertig, Frau Schumacher.“
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Meine Mutter verschwand in der Küche, wahrscheinlich um Trinkgeld zu holen.
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„Danke schön!“, flötete sie und, zack, hatte der Mann einen Zehner in der Hand. Zehn Mark!
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Ohne Scheiß jetzt.
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Da hätte man ja auch mal drüber diskutieren können. Das war mein Taschengeld für zwei Wochen. Das
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bekam der, weil er das machte, was er sowieso machte, zu seiner Schornsteinfegerknete noch dazu.
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„Kaffeekasse“, sagte meine Mutter noch, und der Typ murmelte irgendwas von „Firma dankt.“
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„Motte, willst du den Herrn Schornsteinfeger nicht mal anfassen? Das bringt Glück“, sagte meine
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Mutter.
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Ich dachte, ich höre nicht richtig.
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Außerdem mochte ich es nicht, wenn ich vor fremden Leuten Motte genannt wurde. Die dachten dann,
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das wäre mein Name, und sie könnten mich auch so nennen. Ich suchte mir das aber ganz gerne aus,
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wer das durfte und, was wichtiger war, wer nicht.
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Mir reichte das hier jetzt auch mit der Rumsteherei. Gerade wollte ich mich verkrümeln, als der halbe
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Schornsteinfeger, der etwas später runtergekommen war, auch was sagte:
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„Hi, Motte.“
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Ich war so baff, dass ich diese seltsame Gestalt erst mal nur anguckte, die schwarzen Klamotten,
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die komische Mütze auf dem Kopf und vor allem das schwarze Gesicht.
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„Kennst du mich nicht mehr? Ich bin die Steffi.“
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Meine Mutter und der große Schornsteinfeger lächelten, als ob wir zwei Pudel wären, die sich beschnüf-
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felten, oder was weiß ich.
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Wer zum Teufel war Steffi?
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„Wir waren in einer Klasse in der Grundschule. Steffi Fuchs“, sagte der kleine Schornsteinfeger.
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Steffi Fuchs, Steffi Fuchs ...
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Ach so, ja, klar, Stefanie, die Kleine mit den schiefen Zähnen. Die mal vom Apfelbaum in einen
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großen Laubhaufen gesprungen war, in dem noch die Heugabel gelegen hatte. Hinterher hieß es in
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der Schule, sie hätte lange operiert werden müssen, weil die Heugabel sie gefährlich verletzt hatte.
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Aber wieso stand die jetzt hier als Schornsteinfeger verkleidet? Jedenfalls schien sie trotzdem noch
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gerne zu klettern.
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„Die Steffi ist mein Lehrling. Seit dem Sommer“, sagte der Zehn-Mark-Mann.
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„Du bist die mit der Heugabel, oder?“, fragte ich.
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Jetzt grinste sie, und das sah ziemlich lustig aus mit ihrem schwarzen Gesicht, sodass ich mich ein
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bisschen entspannte.
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„Ja, genau. Das weißt du noch?“
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„Was denkst du denn?“ Pause.
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Mutter glotzte. Schornsteinfeger glotzte.
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Alles, was sie einem beigebracht hatten, das man garantiert und hundertprozentig nicht machen sollte,
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zum Beispiel andere Leute einfach so anzustieren, machten die hemmungslos selbst, dauernd.
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„Und du bist hier jetzt ..., äh, du machst jetzt ...“
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„Schornsteinfegerlehre, genau“, sagte sie.
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„Ah, okay, ja, klar. Cool.“
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Komisch war das, dass die wirklich schon arbeitete.
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Ich kam mir auf einmal ziemlich kindisch vor, als Steffi hier in ihren Arbeitsklamotten vor mir stand.
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Steffi brachte ganze Sätze heraus. Bessere als ich, wenn ich ehrlich war.
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Sie war wirklich ziemlich klein. Ihre Unterlippe stand ein bisschen vor, und sie hatte Grübchen, weil sie
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dauernd grinste. Ihre Schneidezähne waren das Gegenteil von Hasenzähnen, falls es das gibt, sie
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standen ein wenig nach hinten. Und leuchteten im rußigen Gesicht. Sie hatte ihre Mütze abgenommen,
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und ihre Frisur war so ähnlich wie die von Bowie auf dem Cover von „Low“. Ziemlich genial eigent-
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lich, weil bei dem ja sicher mindestens vierzehn Friseure damit beschäftigt gewesen waren und Steffi
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einfach ihre Schornsteinfegermütze aufgehabt hatte, und trotzdem war das Gleiche dabei heraus-
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gekommen.
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„Ja, dann, Steffi, wir sind ja noch nicht fertig für heute“, sagte der Schornsteinchef.
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Die beiden zogen weiter zum Nachbarhaus. Ich guckte ihnen nach. Dem Schornsteinfeger und Stefanie
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Fuchs, die damals in die Heugabel gesprungen war.

Aus: Matthias Brandt: Blackbird, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2019, S. 61–66 (Text gekürzt und geringfügig verändert).

Wahlthema 2

Situation:
Eine Sonderausgabe der Schülerzeitung, die Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und Eltern lesen, befasst sich mit den verschiedenen Möglichkeiten der Recherche.
Du bist gebeten worden, für diese Ausgabe einen informierenden Text über das Online-Lexikon Wikipedia zu verfassen. Zu diesem Zweck wird dir eine Materialsammlung (M 1 - M 6) zur Verfügung gestellt.
Aufgabenstellung:
  • Verfasse auf der Grundlage der Materialien M 1 - M 6 einen informierenden Text zum Thema „Wikipedia als Quelle zur Informationsbeschaffung“.
  • Schreibe nicht einfach aus den Materialien ab, sondern achte auf eine eigenständige Darstellung in einem zusammenhängenden Text.
Gehe dabei so vor:
  • Formuliere für deinen Text eine passende, zum Lesen anregende Überschrift.
  • Erkläre einleitend, welche Ideen die Gründer des Online-Nachschlagwerks Nupedia verfolgten und miot welchem Ergebnis dieses zu Wikipedia weiterentwickelt wurde.
  • Erläutere, worin heute die Stärken der Wikipedia liegen.
  • Erläutere das Phänomen der Schwarmintelligenz und bringe es mit der Funktionsweise der Wikipedia in Verbindung.
  • Stelle dar, wie sich die Autorenschaft der Wikipedia zusammensetzt, und erkläre, welche möglichen Probleme durch diese Zusammensetzung entstehen können, insbesondere mit Blick auf die Qualität und Glaubwürdigkeit der Artikel.
  • Beurteile anhand der Materialien und eigener Überlegungen, inwiefern die Nutzung der Wikipedia zur Informationsbeschaffung sinnvoll sein kann.
Material 1a
Die Geschichte der Wikipedia
Denis Gießler
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Das eigentliche Projekt der Wikipedia-Gründer Jimmy Wales und Larry Sanger war die Online-
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Enzyklopädie Nupedia, die sie 2000 gründeten. Weil Fachartikel auf Nupedia erst zwischen mehreren
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Gutachterinnen und Gutachtern mehrfach hin und her geschickt werden mussten, wie es auch in der
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Wissenschaft üblich ist, entwickelte sich die Plattform nur sehr langsam: In drei Jahren entstanden
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27 Artikel.
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Sanger und Wales überlegten sich also etwas Neues, Schnelleres. Zwar sollten Artikel auf Nupedia
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künftig immer noch aufwendig zwischen mehreren Gutachterinnen und Gutachtern ausgetauscht
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werden, als Vorstufe bauten sie aber auf das sogenannte Wiki-Prinzip. Der Begriff ist aus dem
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Hawaiianischen entlehnt, „wikiwiki“ steht dort für „sehr schnell“ und findet sich etwa auf Express-
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bussen am Flughafen Honolulu. Im Web bezeichnet er Seiten, die kollaborativ von Userinnen und
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Usern bearbeitet werden können, die oft anonym agieren.
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Der Grundgedanke von Sanger und Wales, dass nämlich auf Wikipedia künftig nicht nur einige
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wenige Personen Beiträge schreiben können, sondern alle, war die Demokratisierung von Wissen
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im Netz; ein freies und nichtkommerzielles Angebot, das für alle verfügbar sein sollte. Wikipedia
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ist eines der wenigen Webprojekte, die nichtkommerziell geblieben sind. Mehr noch: Die niedrige
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Einstiegsschwelle und das kollaborative Schreiben machen das Nachschlagewerk zu einem einma-
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ligen Gemeinschaftsprojekt im Netz.
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Wikipedia überholte Nupedia innerhalb weniger Monate. 2003 wurde Nupedia eingestellt. Zu diesem
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Zeitpunkt hatte Wikipedia schon eine Million Beiträge. Bis heute ist es eine der weltweit meistbe-
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suchten Webseiten.

Aus: Die Geschichte der Wikipedia vom 15.01.2021, letzter Zugriff am 19.01.2023 (Text gekürzt und geringfügig verändert;
Überschrift geändert).
Material 1b
Der schnelle Weg zum Weltwissen
Torsten Kleinz
1
Kurt Jansson, zur Zeit der Gründung der Wikipedia Soziologie-Student an der Freien Universität
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Berlin, stieß schnell auf das Projekt: „Ich war begeistert: Man musste nur auf ‚Bearbeiten‘ klicken
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und das Ergebnis stand sofort online“, sagt Jansson. Die Idee, das Web nicht nur zu konsumieren,
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sondern an der Erstellung einer neuen Art von Enzyklopädie teilzunehmen, faszinierte ihn und viele
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andere. Wie die Wikipedia in den ersten Monaten aussah, hat Jansson für die Allgemeinheit festge-
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halten: Auf seiner Webseite veröffentlichte er eine Momentaufnahme der deutschen Wikipedia in
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ihrem ersten Jahr. Noch musste das Projekt fast ganz ohne Grafiken auskommen – alleine das Logo
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der Nupedia prangte auf der Wikipedia-Startseite. Auch die Qualität der Texte war noch eher schlicht:
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Ein halbes Jahr nach Gründung umfasste der Eintrag zu Deutschland ganze fünf Zeilen und enthielt
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im Wesentlichen nur eine Aufzählung der Bundesländer, wichtiger Städte und angrenzender Staaten.
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Zum Vergleich: Der heutige Artikel ist 75 Druckseiten lang und deckt die Geschichte Deutschlands
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genauso ab wie Kultur und Politik.

Aus: Der schnelle Weg zum Weltwissen vom 10.10.2012, letzter Zugriff am 25.02.2022, (Text gekürzt und geringfügig verändert).
Material 2
Lexikonmacher auf Schultournee
Birger Menke
1
Hausaufgabe, Referat, Klausurvorbereitung? Schlag nach bei Wikipedia. Lehrer sehen das Online-
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Lexikon als gewaltigen Spickzettel, weil viele Jugendliche es blind und kritiklos plündern. Bei
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Aktionstagen zeigen Wikipedianer Schülern, wie tückisch Wissen aus dem Internet ist.
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Der Auftritt von Denis Barthel hat etwas von einer Werbeveranstaltung, doch seine Mission ist anders:
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Er will warnen, nicht werben. Ein Freitagmorgen, acht Uhr, erste Stunde in der Carl-von-Ossietzky-
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Gesamtschule in Berlin-Kreuzberg. In grauem Anzug spricht Barthel mit 21 Schülerinnen und Schülern
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der 10. Klasse. Der Projektmanager und Administrator von Wikipedia zeigt in einer PowerPoint-Präsen-
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tation verschiedene Einträge aus dem Online-Lexikon. Was die gemeinsam haben: Alle sind schlecht.
9
„Hier, das sind alles technische Spezialausdrücke, das versteht kein Mensch“, sagt er und zeigt den
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Eintrag zu FREDFET, einem speziellen Transistor. „Noch ein Beispiel: Weihnachtsmarkt Naumburg,
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da heißt es: ‚festlich geschmückt, gemütliche und stimmungsvolle Atmosphäre’, das ist nicht neutral.“
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Der Aktionstag an der Kreuzberger Schule ist Teil eines Projekts, an dem der Trägerverein Wikime-
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dia bereits seit 2006 feilt und das nun in die Pilotphase geht. „Wir wollen Schülerinnen und Schüler
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zum bewussteren Lesen und Mitdenken animieren“, sagt Wikimedia-Sprecherin Catrin Schoneville.
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Lesekompetenz und kritisches Denken, das sind die klassischen Kernziele einer jeden Schule.

Aus: Lexikonmacher auf Schultournee vom 24.03.2009, letzter Zugriff am 19.01.2023, (Text gekürzt und geringfügig verändert).
Material 3
Nutzung von Wikpedia und Bewertung der Verlässlichkeit dort angebotener Inhalte
Hinweis zur Grafik: Befragt wurden 1007 Bundesbürger ab 14 Jahren, darunter 808 Internetnutzer und 637 Wikipedia-Nutzer.
zp10 deutsch wikipedia grafik

Aus: Nutzung von Wikpedia und Bewertung der Verlässlichkeit dort angebotener Inhalte, letzter Zugriff am 25.02.2022,
(Grafik geringfügig verändert; Überschrift geändert).
Material 4
Im Netz der Wikipedianer
Maren Schürmann
1
Gereon Kalkuhl suchte den vom Erdboden verschwundenen Geburtsort seiner Uroma und fand ihn
2
bei Wikipedia. Seine Neugier auf das Projekt Wikipedia war geweckt: „Ich habe gesehen, jeder kann
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da Artikel schreiben.“ Wirklich jeder? Und über jedes Thema?
4
Das Besondere: Nicht nur Akademiker schreiben die Texte. Ob ein Professor oder einSchüler, ein
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Handwerker oder ein Millionär – jeder kann ein Wikipedianer werden, wie sich die Autoren auch
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nennen. Zumindest theoretisch. Denn ein paar Regeln gibt es schon. Und was relevant ist, das schreibt
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die Wikipedia-Gemeinde vor. Kontrolliert von so genannten Administratoren.
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Gereon Kalkuhl selbst hat inzwischen 1740 Artikel für Wikipedia geschrieben. Der erste, Anfang 2007,
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handelte von dem Dänen Curt Hansen. „Er war zu dem Zeitpunkt der beste Schachspieler. Mich hat
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es gewundert, dass es keinen Artikel über ihn gab.“ Also schrieb er – und der Beitrag verschwand.
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Denn Kalkuhl hatte nicht alles richtig gemacht, wie ihm sogleich ein erfahrener Wikipedianer mit-
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teilte. Übel nahm er es ihm nicht, im Gegenteil. Von nun an wusste Kalkuhl, dass er zum Beispiel
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die Position der Weltrangliste eines Schachspielers nicht tagesaktuell ohne zeitliche Einordnung
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benennen sollte.
15
„Wenn ich einen Artikel schreibe, muss ich eigentlich alles lesen, was je über das Thema geschrieben
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wurde.“ Im Netz oder aber auch in den guten alten Büchern, die er sich über Fernleihe bestellt. „Ich
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gucke, woher die Information stammt, und vergleiche die Quellen.“ Die sind wichtig, betont Kalkuhl.
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Denn nur Sachverhalte, die sich belegen lassen und auf die er in den Fußnoten verweist, dürfe er
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verwenden. Für die vielen Texte erhält er keinen Cent, alle Wiki-Autoren arbeiten ehrenamtlich.
20
Er ist davon überzeugt, dass die Fehlerquote bei Wikipedia gering ist, und zwar aufgrund der Schwarm-
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intelligenz: „Wenn bei Wikipedia ein Fehler auftaucht, dann sehen das 100.000 Leute, 10.000 davon
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fällt der Fehler vielleicht auf, 1.000 denken sich, da müsste man etwas tun, 100 wissen, wie es geht,
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und 10 korrigieren es – und zwar in Sekundenschnelle.“ Studien, bei denen klassische Enzyklopädien
24
mit Wikipedia vergleichen wurden, bestätigen seine Einschätzung zur geringen Fehlerquote.
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Entdeckt ein Wikipedianer eine falsche Behauptung, dann wird er sie in der Regel löschen. Aber wie
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sieht das bei Sachverhalten aus, bei denen Menschen verschiedene Ansichten haben? Bei einem Streit
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kann schon mal ein erfahrener Wikipedianer entscheiden, einer von rund 190 ehrenamtlichen Adminis-
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tratoren in Deutschland, einer wie Gereon Kalkuhl.

Aus: Westfalenpost vom 13.03.2021, Rubrik „Mittendrin“ (Text fekürzt und geringfügig verändert).
Material 5
Gemeinsam genial – in der Gruppe sind wir klüger als allein
Ansgar Warner
1
Gebannt wartet die Menschenmenge an der Fußgängerampel mitten in einer deutschen Großstadt.
2
Schon eine gefühlte Ewigkeit dauert die Rotphase nun. Da geht der erste Passant einfach bei Rot
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über die Straße, ein weiterer folgt, noch einer, und dann passiert etwas Merkwürdiges: Wie auf
4
Kommando gehen plötzlich auch alle anderen gleichzeitig los
5
Im Tierreich kann man sogar noch weitaus Spektakuläreres beobachten. Ein Starenschwarm beispiels-
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weise zieht am Himmel vorbei, plötzlich scheint der Schwarm in der Luft stehenzubleiben, zeigt eine
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Art Unschlüssigkeit, dann nimmt das gefiederte Geschwader wieder Bewegung auf, stößt wie fern-
8
gesteuert hinab, schließlich verteilen sich die Vögel krächzend auf den Ästen einer ausladenden Baum-
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krone.
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Für den Beobachter ist das verblüffend. Wer steuert die Krähen am Himmel in Richtung Landeplatz,
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einen Heringsschwarm im Meer weg vom Fressfeind, die Ameisen auf einer Ameisenstraße in
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Richtung Speisekammer?
13
Die Antwort ist einfach und kompliziert zugleich: niemand, und doch alle zugleich. Die Wissenschaft
14
spricht deswegen von Schwarmintelligenz.
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Der Schwarm ist nämlich in vielen Fällen schlauer als der Einzelne, was etwa bei der Erkennung von
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Gefahren von Vorteil ist. Während sich ein Fisch alleine oder ein Vogel alleine beim Erkennen eines
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Raubtiers irren mag, macht der Schwarm deutlich weniger Fehler: „Bei einem unserer Experimente
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trafen einzelne Fische zu 55 Prozent die richtige Entscheidung, ein Schwarm von 16 Fischen dagegen
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erreichte 80 Prozent, und das auch noch in kürzerer Zeit“, so der Fisch-Forscher David Bierbach von
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der Berliner Humboldt-Universität. Hierfür hat sich im Wissenschaftsjargon auch die Bezeichnung
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„Weisheit der Massen“ eingebürgert, die man im Übrigen auch bei Menschen beobachten kann. Diese
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Erfahrung machte bereits im Jahr 1906 der britische Naturforscher Francis Galton: Als auf einer Nutz-
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tiermesse die Besucher im Rahmen eines Gewinnspiels das Gewicht eines Ochsen schätzen sollten,
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wertete Galton anschließend die einzelnen Schätzungen aus, knapp 800 an der Zahl. Das verblüffende
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Ergebnis: Der Mittelwert lag ziemlich genau am tatsächlichen Gewicht, die Abweichung betrug nur
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etwa ein Prozent. Die Schätzungen einzelner Experten dagegen, vom Züchter bis zum Metzgermeister,
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wichen deutlich stärker von der richtigen Lösung ab.
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Dank des Internets können online heutzutage riesige „Crowds“ (also Menschenmengen) zusammen-
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wirken und noch weitaus erstaunlichere Leistungen erbringen. Das prominenteste Beispiel ist wohl
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die Online-Enzyklopädie Wikipedia.
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Und was ist mit der Dummheit der Massen – gibt es vielleicht auch Schwarmdummheit? „Zehn Deut-
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sche sind natürlich dümmer als fünf Deutsche“, lästerte etwa nach der Wiedervereinigung der Schrift-
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steller Heiner Müller. An der mehrheitlich von Fußgängern missachteten roten Ampel mag man ihm
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da manchmal zustimmen. Doch sollte man die Fähigkeit des Schwarms, Fehler rasch wieder zu korri-
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gieren, auch nicht unterschätzen.

Aus: Westfalenpost vom 21.03.2021, Rubrik „Mittendrin“ (Text ist gekürzt und geringfügig verändert; Überschrift geändert).
Material 6a
Wikipedia – Aktuelle Herausforderungen.
Lukas Mezger im Gespräch mit Jens Tönnesmann von ZEIT ONLINE
Lukas Mezger ist Wikipedia-Autor und ehrenamtlich Vorsitzender von Wikimedia Deutschland.
1
ZEIT ONLINE: Warum fällt es Wikipedia so schwer, jüngere Autorinnen und Autoren anzulocken?
2
Mezger: Es stimmt schon, dass die meisten Wikipedianer ältere, weiße Männer sind – und
3
das meine ich nicht negativ, das sind ja leidenschaftlich engagierte Menschen. Aber
4
die Gruppe der Jung-Wikipedianer setzt sich gezielt dafür ein, mehr jüngere Men-
5
schen für die Wikipedia zu begeistern – auch wenn die ihre Zeit vielleicht lieber in
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anderen sozialen Netzwerken verbringen. Wir sind froh, dass es bei uns nicht um
7
schnelle Likes geht; aber wir müssen auch überlegen, was Wikipedia zum Beispiel
8
von Instagram lernen kann.
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ZEIT ONLINE: Ein anderes Problem ist, dass es viel weniger Wikipedianerinnen gibt als Wikipe-
10
dianer. Nimmt Wikipedia eine zu männliche Sicht auf die Welt ein?
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Mezger: Das Ungleichgewicht ist ein ernstes Thema. Und der bekannte Fall von Donna
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Strickland zeigt, dass es sich auf die Inhalte auswirkt. Die Physikerin wurde zuerst
13
für zu irrelevant für die englischsprachige Ausgabe der Wikipedia befunden und
14
der Eintrag über sie gelöscht – bis sie den Nobelpreis gewonnen hat. Das war natür-
15
lich ein Skandal. Aber es gab auch eine weitere Erklärung dafür: Die englischspra-
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chige Wikipedia setzt voraus, dass eine Persönlichkeit auch in den Medien rezipiert
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wird, damit sie einen Eintrag erhalten kann. Und die Medien berichten mehr über
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Männer als über Frauen, was sich wiederum auf die Inhalte von Wikipedia auswirkt.

Aus: Wikipedia – Aktuelle Herausforderungen. vom 21.03.2021 , letzter Zugriff am 25.02.2022,
(Text gekürzt und geringfügig verändert; Überschrift geändert).
Material 6b
Fachkräftemangel
Thomas Urban
Auf Wikipedia toben sich auch Autoren aus, die Halb- und Unwahrheiten, Beschönigungen und Diffamierungen verbreiten.
1
Kann man der Wikipedia noch trauen? Auf jeden Fall ist es in den vergangenen Jahren schwieriger
2
geworden. Das Problem der veralteten, überholten Artikel ist das augenscheinlichste – aber es ist nicht
3
das einzige.
4
Grundsätzlich kann an der Wikipedia jeder mitarbeiten. Wer einen Artikel verändern will, gelangt
5
ber einen Reiter am Kopf jedes Textes in den Bearbeitungsmodus. Unter dem Reiter „Versionsge-
6
schichte“ kann man sich außerdem ansehen, welche Änderungen an einem Artikel vorgenommen
7
wurden seit seiner Entstehung. Wenn ein neuer Autor etwas ändert, muss ein erfahrener Wikipedianer
8
die Änderungen sichten und freischalten, bevor sie veröffentlicht werden. Jede Aussage muss vom
9
Autor belegt werden. Als weitere Kontrollstufe können schließlich die Administratoren eingreifen.
10
Wikipedia steht jedem offen – und doch fehlt es dem Projekt an neuen Autoren, an Experten, die ihr
11
Wissen einbringen. Die Folge dieses Fachkräftemangels: Bei einem so wichtigen Themenkomplex
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wie „Nationalsozialismus“ gehören nicht etwa die angesehensten Experten und Historiker, sondern
13
ein arbeitsloser Klavierlehrer und ein aus dem Schuldienst ausgeschiedener Lateinlehrer zu den aktivsten
14
Autoren.
15
Auch gezielte Manipulation ist in Wikipedia-Artikeln zu finden, durch „Schönschreiber“ etwa, die
16
Artikelinhalte „optimieren“. Ein Beispiel aus der Wirtschaft: Im Artikel über eine Unternehmensgruppe,
17
die im Bereich der Aufstellung von Spielautomaten arbeitet, wurde der Begriff „Spielsucht“ durch
18
die harmlosere Wendung „vorübergehend übertriebenes Spielverhalten“ ersetzt.
19
Oder: Im Themenbereich Medizin wurde ein Vielschreiber als Angestellter eines Pharmakonzerns
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enttarnt; ihm konnte nachgewiesen werden, dass er Informationen über Nebenwirkungen von Medika-
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menten in Wikipedia verharmlost hat. Zudem wird ihm vorgeworfen, das Kapitel über die Geschichte
22
seines Arbeitgebers während der Zeit des Nationalsozialismus geschönt zu haben: Er hat das Thema
23
in einen neuen Artikel ausgelagert, auf den man aber nur bei gezielter Suche stößt. Auf den Artikel
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über den Konzern wird täglich etwa 350-mal geklickt, auf den ausgelagerten Text über die Geschichte
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des Konzerns nur 16-mal.

Aus: Süddeutsche Zeitung, Nr. 230, 05./06.10.2019, S. 12 (Text gekürzt und geringfügig verändert).

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