Lerninhalte in Deutsch
Prüfungsaufgaben (ZP10)
Inhaltsverzeichnis

Leseverstehen

Die Gewissenhaften

Boris Herrmann
Die in der Mitte bemerkt man nicht – aber sie bekommen alles mit: Über die Stenografen und ihre Arbeit im Bundestag.
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(1) Henning van de Loo, 51, wird gleich seinen Arbeitsplatz in der ersten Reihe des Deutschen Bundes-
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tags einnehmen – dort also, wo in Deutschland zum Beispiel neue Gesetze diskutiert und beschlossen
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werden. Zu seinem Job als Stenograf gehört es, stets so unscheinbar wie möglich dabei zu sein. Er darf
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den Sitzungsverlauf des Parlaments in keiner Weise beeinflussen, er soll ihn protokollieren. Und zwar
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lückenlos. Kein gesprochenes Wort, kein Klatscher, kein Zuruf, keine Ironie am Rande, keine atmosphä-
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rische Störung darf ihm entgehen. Und spätestens am nächsten Morgen um neun Uhr muss das Protokoll
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der Öffentlichkeit in „maschinengeschriebener Form“ zur Verfügung stehen.
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(2) Jemand hat die Stenografie einmal als die verkannte Schönheit des geistigen Leistungssports
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bezeichnet. Das passt auch deshalb, weil die gut 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Stenogra-
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fischen Dienstes im Bundestag wie Staffelläufer arbeiten. Im Fünf-Minuten-Takt wechseln sie sich
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beim Protokollieren im Plenarsaal ab. Mit Spitzengeschwindigkeiten von mehr als 400 Silben pro
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Minute bringen sie das Geschehen zu Papier, fünf bis acht Mal schneller als mit einer üblichen Hand-
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schrift. Sie hören dem Hauptredner zu und versuchen gleichzeitig, bis zu 709 Abgeordnete im Blick
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zu haben. Natürlich sind längst nicht immer alle da, aber dafür sitzen die, die da sind, stets woanders.
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Das macht es nicht einfacher, den Zwischenrufen in Sekundenbruchteilen einen Namen zuzuordnen.
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„Stopp, bitte nicht so schnell“, kann van de Loo nicht sagen.
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(3) Henning van de Loo bewegt den Kopf wie ein Tennis-Schiedsrichter, während er stenografiert. Als
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der Bundestagspräsident den nächsten Tagesordnungspunkt aufruft, sind van de Loos fünf Minuten
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Protokollzeit schon wieder um. Er hat in dieser Zeit eine Rede, den Verlauf einer Abstimmung sowie
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15 Zwischenrufe und Zwischenbemerkungen notiert. All das passt bei ihm auf zwei DIN-A5-Zettel.
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Damit eilt er zurück in sein Büro, wo bereits eine Schreibkraft auf ihn wartet. Die beiden haben jetzt
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etwa eine Stunde Zeit, um aus der stenografischen Kurzschrift eine lesbare Langschriftversion zu
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machen. Dabei redigiert van de Loo bereits im Kopf. Das gesprochene Deutsch enthält fast immer
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Füllwörter, Versprecher und Halbsätze, die ins Nichts führen. Zu den Aufgaben des Stenografen
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gehört es daher, den Text während des Diktats an die Schreibkraft in eine druckreife Fassung zu
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verwandeln. Dabei dürfen aber weder der Inhalt noch der Duktus der Rede verändert werden. Das
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ist die eigentliche Kunst der Parlamentsstenografie.
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(4) All das geschieht unter enormem Zeitdruck. „Punkt, Diktat Ende.“ Kurze Pause. Dann muss van
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de Loo wieder in den Plenarsaal für seine nächsten fünf Minuten. Sechs solcher Einsätze haben er und
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jeder seiner Kollegen an diesem Arbeitstag. „An einem Parlamentsprotokoll arbeiten 30 Leute, es soll
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am Ende aber wie aus einem Guss klingen“, sagt van de Loo. Durch diesen ständigen Wechsel von
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der Mitschrift im Plenarsaal und dem Diktat im Schreibbüro ist es möglich, dass jede Rede bereits eine
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Stunde, nachdem sie gehalten wurde, schriftlich vorliegt. Wenn der Text fertig ist, haben die Redner
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noch zwei Stunden Zeit für kosmetische Korrekturen, inhaltlich dürfen sie nichts mehr verändern.
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Der Stenografische Dienst des Bundestags ist stolz darauf, zu den schnellsten der Welt zu gehören.
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(5) Der Beruf des Stenografen existiert praktisch nur noch im Bundestag und in den Landtagen. Selbst-
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verständlich wird auch dort alles von Kameras und Mikrofonen aufgezeichnet. Aber keine Kamera
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kann den Namen eines Zwischenrufers erfassen. Und wenn mehrere Abgeordnete gleichzeitig reden,
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fängt ein Mikrofon meist nur unverständlichen Brei ein. Es gibt nicht mehr viele Orte, an denen die
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Maschinen den Menschen unterlegen sind, aber das unübersichtliche, mitunter auch chaotische Trei-
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ben im Parlament gehört offenbar dazu. Sechs Fraktionen, sieben Parteien, eine Rekordzahl von
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709 Abgeordneten. Es liegt auf der Hand, dass da auch die Zahl der Zwischenrufe deutlich zugenom-
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men hat. Umso wichtiger ist, dass die Stenografen ihr Handwerkszeug beherrschen: schnell schreiben
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und Gesichter kennen.
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(6) Über eine Stellenanzeige gelangte Petra Augustin, 54, in den Stenografischen Dienst des nieder-
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sächsischen Landtages und stieg später in den Bundestag auf. Van de Loo und Augustin gehören
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heute zu einer Gruppe von vielleicht 200 Eingeweihten in Deutschland, die die sogenannte Rede-
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schrift beherrschen. Das ist die schnellste und höchste Form der Stenografie. Augustin sagt: „Bei
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der Redeschrift gibt es nicht mehr für jedes Wort ein festgelegtes Zeichen.“ Vieles ist so reduziert,
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dass es sich später nur im Textzusammenhang wieder entziffern lässt. Jeder findet seine eigenen
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Wege, um zu kürzen. Was Augustin aufschreibt, kann sogar van de Loo nicht ohne Weiteres lesen.
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(7) Was die Stenografen im Bundestag machen, ist an geistiger Komplexität mit Hochleistungsschach
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oder Free-Jazz vergleichbar. Tatsächlich rekrutiert der Stenografische Dienst auch aus diesen Be-
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reichen seinen Nachwuchs. „Wer ein Instrument spielt, der hat es im Kopf und in der Hand. Das sind
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bei uns gute Einstellungsvoraussetzungen, und da gibt es immer mehr Quereinsteiger“, sagt Augustin.
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Inzwischen ist ihre Abteilung jedoch auch zunehmend auf den immer kleiner und älter werdenden
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Kreis von Sportstenografen angewiesen, die in ihrer Freizeit um die Wette kürzeln.

Aus: Süddeutsche Zeitung, Nr. 295, 21./22.12.2019, S. 3 (Text gekürzt und geringfügig verändert).

Aufgaben zu: Die Gewissenhaften

Kreuze die richtige Antwort an.
1.
Als Stenograf muss Henning van de Loo (Abschnitt 1) ...
a) insbesondere Texte von neuen Abgeordneten überarbeiten.
b) unter anderem Reden im Bundestag genau mitschreiben.
c) Bundestagsitzungen öffentlich zusammenfassen.
d) Sitzungsverläufe im Bundestag koordinieren.
2.
Das Besondere an der Stenografie ist, dass (Abschnitt 2) ...
a) sie Schön- und Kurzschrift miteinander verbindet.
b) man beim Schreiben nicht auf das Blatt schauen muss.
c) sie sich von der üblichen Langschrift kaum unterscheidet.
d) durch ihre Anwendung ein hohes Schreibtempo erreicht wird.
3.
Über die Stenografie wurde gesagt, sie sei „die verkannte Schönheit des geistigen Leistungssports“ (Z. 8). Damit ist gemeint (Abschnitt 2), dass Stenografie eine ...
a) von vielen unterschätzte Disziplin des Leistungssports ist.
b) besonders anspruchsvolle Variante des Schönschreibens ist.
c) Kunst ist, bei der Gehörtes unter extremen Bedingungen verschriftlicht wird.
d) Art Wettkampf ist, bei dem sich mehrere Protokollanten im Schnellschreiben messen.
4.
Erläutere im Textzusammenhang (Abschnitt 2 und 3) die Aussage „Henning van de Loo bewegt den Kopf wie ein Tennis-Schiedsrichter, während er stenografiert.“ (Z. 17)
5.
Nach einer 5-minütigen Protokollzeit im Plenarsaal muss van de Loo seine Mitschrift im Schreibbüro (Abschnitt 3) ...
a) einem bereits auf ihn wartenden Stenografen überreichen.
b) inhaltlich kürzen und anschließend in den Druck geben.
c) einer Schreibkraft zur grammatischen Korrektur vorlegen.
d) einer Schreibkraft diktieren und dabei druckreif machen.
6.
Erläutere die Aussage „[Das Protokoll] soll am Ende aber wie aus einem Guss klingen“ (Z. 30-31) im Textzusammenhang (Abschnitt 4).
7.
Nachdem die Rede eines Abgeordneten protokolliert wurde (Abschnitt 4) ...
a) wird sie dem Redner zur Überprüfung vorgelegt.
b) ist die Arbeit des Stenografen abgeschlossen.
c) korrigiert das Schreibbüro inhaltliche Fehler.
d) bringt der Stenograf sie schnell zum Druck.
8.
Der Einsatz beruflicher Stenografen (Abschnitt 5) ...
a) setzt ein rücksichtsvolles Verhalten aller Abgeordneten voraus.
b) wird bei einer neuen Rekordzahl von Abgeordneten verdoppelt.
c) verringert in den meisten Fällen das chaotische Treiben im Parlament.
d) ist im Wesentlichen auf Sitzungen im Bundestag und Landtag begrenzt.
9.
Bild- und Tonaufnahmen im Bundestag und im Landtag können Stenografen nicht ersetzen, weil diese (Abschnitt 5) ...
a) eingreifen können, wenn mehrere Abgeordnete gleichzeitig reden.
b) die einzelnen Zwischenrufer voneinander unterscheiden können.
c) entscheiden dürfen, welche Zwischenrufe protokolliert werden.
d) die Wortbringer der Abgeordneten kommentieren dürfen.
10.
Petra Augustin und Henning van de Loo (Abschnitt 6) ...
a) lernten sich über eine Stellenanzeige kennen.
b) arbeiteten beide für den niedersächsischen Landtag.
c) beherrschen beide eine besondere Form der Stenografie.
d) können stenografierte Texte des jeweils anderen ohne Probleme lesen.
11.
Anders als die übliche Kurzschrift ist die sogenannte Redeschrift (Abschnitt 6) ...
a) die für ausgewählte Stenografen verbindliche Protokollform.
b) ein längerer Text auf der Grundlage festgelegter Zeichen.
c) eine für wenige Eingeweihte entwickelte Geheimschrift.
d) die individuell abgeänderte Kurzschrift eines Stenografen.
12.
Erläutere im Textzusammenhang (Abschnitte 6 und 7), weshalb das Beherrschen eines Instruments laut Petra Augustin eine gute Einstellungsvoraussetzung für eine Tätigkeit beim Stenografischen Dienst darstellt.
13.
Heutzutage wird die Kunst der Stenografie (Abschnitt 7) ...
a) überwiegend von Nachwuchsmusikern ausgeübt.
b) von Quereinsteigern zeitgemäß weiterentwickelt.
c) oft als Freizeitbeschäftigung für Ältere abgewertet.
d) nicht nur von ausgebildeten Stenografen beherrscht.
14.
Ein Schüler sagt nach dem Lesen des Textes: „Stenografen im Bundestag sind Einzelkämpfer.“
Schreibe eine kurze Stellungnahme zu dieser Aussage.
Du kannst der Auffassung zustimmen oder nicht. Wichtig ist nur, dass du deine Meinung begründest. Beziehe dich dabei auf den Text.

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