Aufgabenstellung D
Erörterung literarischer Texte
Thema: Juli Zeh: Corpus Delicti Aufgabenstellung:- Erörtere, ob bzw. inwiefern die folgende These der Journalistin Barbara Hordych auf die Figur Mia Holl in Juli Zehs Roman Corpus Delicti zutrifft.
- Belege deine Aussagen am Romantext.
braven Ja-Sagerin Mia eine Ikone der Widerstandsbewegung
‚Recht auf Krankheit‘ werden.“
Barbara Hordych ist Redakteurin im Ressort Kultur der Süddeutschen Zeitung in München. Aus: Hordych, Barbara: Eingefroren. Juli Zehs „Corpus Delicti“; (2020) (Zugriff: 09.03.2022)
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Einleitung
- Der Roman Corpus Delicti stammt von der deutschen Autorin Juli Zeh, wurde 2009 veröffentlicht und gehört zur dystopischen Literatur, die gesellschaftliche Entwicklungen kritisch darstellt und einen erschreckenden Ausgang zeichnet.
- Die Handlung spielt in einem totalitären Überwachungsstaat im 21. Jahrhundert. Neben der männlichen Hauptfigur Moritz Holl spielt auch seine Schwester, die weibliche Protagonistin Mia Holl, und ihre Entwicklung innerhalb des Romans eine wichtige Rolle. Auf diesen Aspekt bezieht sich die Autorin Barbara Hordych in der vorliegenden These.
- Inwiefern ihre durchaus diskutable These auf die Figur Mia Holl wirklich zutrifft, soll in der folgenden Erörterung unter Hinzunahme des Romantextes näher analysiert werden.
Hauptteil
Erläuterung der These- Die Autorin Barbara Hordych verweist in ihrer These auf den Transformationsprozess der Figur Mia Holl in Juli Zehs Corpus Delicti.
- Ihre These besagt, dass der Selbstmord von Mias jüngerem Bruder Moritz als Startschuss für ihre Entwicklung zu einer Aktivistin fungiert. Laut Hordych entwickelt sich die Figur im Roman von einer gehorsamen Bürgerin zu einer Widerstandskämpferin und einem wichtigen Vorbild für die gesamte Bewegung.
- Die Figur Mia Holl ist zunächst für lange Zeit eine Verfechterin und Befürworterin der gesellschaftlich unangefochtenen Methode (Vgl. z. B. S. 59), die allen Bürgern ein langes und gesundes Leben ermöglichen soll und Faktoren wie gesunde Ernährung und sportliche Betätigung miteinschließt (Vgl. S. 18). Zu Beginn des Romans zeichnet sich die Protagonistin durch konformistische Persönlichkeitszüge aus. Sie passt sich den Normen und dem System, dem sie angehört, unhinterfragt an. Demnach ist sie zu diesem Zeitpunkt durchaus als „Ja-Sagerin“ zu betrachten.
- Für Mias Befürwortung des Systems vor dem Tod ihres Bruders spricht ebenfalls, dass sie als junge Biologin selbstverständlich auch Anhängerin der Gesundheitsmethode ist (Vgl. S. 27, 37, 75, 79) und die vom Staat gegebenen Regeln gewissenhaft befolgt (Vgl. S. 18).
- Das Wächterhaus, in dem Mia Holl lebt, passt ebenfalls zu ihrer strengen Regelbefolgung und ihrem Verständnis von Disziplin und Gewissenhaftigkeit (Vgl. S. 22).
- Außerdem versucht sie ihren Bruder, der das System aufgrund fehlender Freiheitsrechte ablehnt, vor dessen Tod in Gesprächen immer wieder von dem Gesundheitsregime und seinen Maßnahmen zu überzeugen (Vgl. S. 92-95).
- Mia Holl pflegt zu ihrem Bruder Moritz ein enges Verhältnis. Der Selbstmord ihres Bruders ist als klarer Wendepunkt zu sehen. Mit der Fantasiefigur, der sogenannten „idealen Geliebten“, spricht sie erstmals offen über ihre Gedanken und Emotionen sowie über ihren Bruder und seine Vorstellungen (Vgl. S. 80-82).
- Moritz selbst war Künstler und lehnte die rigiden Gesundheitsregeln des Staates strikt ab. Sein Selbstmord ist somit als Akt des Widerstandes gegen das Gesellschaftssystem zu sehen. Der Selbstmord bringt in der Protagonistin Mia einen Reflexionsprozess in Gang und lässt sie am gesellschaftlichen System zweifeln (Vgl. z. B. S. 105 f.). Moritz' Tod veranlasst sie endgültig dazu, die Überzeugen ihres Bruders zu teilen und somit die staatliche Diktatur mit ihren gesellschaftlichen Konventionen, Normen und Regeln infrage zu stellen, wie auch das Gespräch mit dem Systemanhänger Heinrich Kramer deutlich werden lässt (Vgl. S. 122-125).
- Insbesondere hinterfragt sie das Gesundheitsgesetz des gesellschaftlichen Systems, welches die Gesundheit der Menschen strikt kontrolliert und sie dazu zwingt, ausschließlich gesund zu leben und auf jede Form von Genussmitteln zu verzichten (Vgl. z. B. S. 105 f.). Somit wird die Freiheit der Menschen stark eingeschränkt. Mia beginnt die Regeln des „Gesundheitsstaates“ zu brechen, indem sie z. B. ihr körperliches Training einstellt, Genussmittel einnimmt oder ihre Wohnung verkommen lässt (Vgl. z. B. S. 18, 26, 47, 52, 67, 151-152) und entwickelt sich von der Zweifelnden immer mehr zur Staatsfeindin (Vgl. z. B. S. 186 f., 234).
- Als Aktivistin fungiert Mia Holl zugleich auch als wichtige Symbolfigur im Roman, die für die Freiheit des Individuums gegenüber staatlicher Kontrolle und Unterdrückung einsteht. Sie repräsentiert die Anliegen dieser Bewegung in Form von offenem Widerstand (Vgl. S. 186 f., 232) und setzt sich für das menschliche Recht auf Krankheit ein. Somit hat ihr Wandel zu einer Verfechterin und Ikone der Bewegung auch Einfluss auf die Romanhandlung. Die Widerstandsbewegung betont das individuelle Recht auf körperliche Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit. Mia Holl zieht die eigentlich private Angelegenheit des Selbstmords ihres Bruders somit bewusst in die Öffentlichkeit, lässt sich nicht zum Schweigen bringen und tritt stattdessen vor dem Gericht auf (Vgl. S. 158-161) oder veröffentlicht eine Proklamation, in der sie den „Gesellschaftsstaat“ verurteilt (Vgl. S. 186 f.). Sie nimmt sogar den Tod als Märtyrerin in Kauf.
- Aufgrund ihres beruflichen Hintergrundes beruht ihre anfängliche Anpassung an das Gesundheitsregime auf relativierenden und rationalen Begründungen und Entscheidungen sowie wissenschaftlichen Argumenten. Demnach unterscheidet sie sich von der bedenkenlos-unreflektierten Zustimmung einer typischen „Ja-Sagerin“ (Vgl. S. 37, 75, 79).
- Es handelt sich bei Mia um eine komplexe, vielschichtige Figur und somit muss auch ihre Entwicklung nicht ausschließlich auf den Selbstmord ihres Bruders zurückzuführen sein. Mia Holls Denken und Verhalten weisen bereits vor Moritz' Selbstmord auf Zweifel am System hin (Vgl. S. 60, 90, 147-149, 151). Außerdem empfindet sie bereits den Prozess gegen ihren Bruder als äußerst ungerecht (Vgl. S. 167).
- Mia bringt zunächst wenig Verständnis für das enorme Freiheitsbedürfnis ihres Bruders auf (Vgl. S. 25-28). Moritz ging es gerade nicht darum, andere von seinen persönlichen Ansichten zu überzeugen, sondern dafür einzustehen, dass die persönliche Freiheit jedes Einzelnen gewahrt wird und man friedlich zusammenleben kann, ohne zwingend die Einstellung des Anderen teilen zu müssen. Deshalb wollte er sich auch nicht der Bewegung „R.A.K“ anschließen, weil das Unterordnen der Regeln dieser Bewegung nicht zu seinem Autonomie- und Freiheitsverständnis gepasst hätte.
- Die große Unzufriedenheit mit der Gesellschaft, in der sie lebt, kann auch allein zu ihrem Transformationsprozess geführt haben oder einen der Entwicklungsfaktoren darstellen (Vgl. z. B. S. 81 f.). Auch eine intrinsische Motivation (z. B. Unzufriedenheit oder Rache) könnte Mia dazu bewegt haben, gegen das Gesundheitsregime anzukämpfen. Für Mias Ablehnung des Systems vor Moritz' Tod spricht außerdem, dass Mia bereits vor dem Selbstmord mit der imaginären „idealen Geliebten“ in Kontakt kam (Vgl. S. 45 f.).
- Ebenfalls könnte Mias persönliche Reife zu ihrer Entwicklung beigetragen haben. So lässt sich argumentieren, dass sie sich wahrscheinlich auch ohne den Tod ihres Bruders früher oder später zu einer ikonenhaften Aktivistin etabliert hätte. Das Gespräch mit Rosentreter über die Regeln zu Heirat und Fortpflanzung könnte bspw. ein möglicher Grund für ihre wachsenden Zweifel sein (Vgl. S. 112-115).
- Weiterhin lässt sich anmerken, dass Mia erst dann aktiv wird, als sie indirekt mit der Gesundheitsmethode konfrontiert wird und dieses Thema konkret in ihr Leben übergreift. Mia wirkt häufig verwirrt, fremdbestimmt und verloren. Ihr kann eine mangelnde Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit sowie Passivität und Fremdbestimmtheit in Bezug auf die Bewegung unterstellt werden (Vgl. S. 75, 81 f., 109-111, 197). Dazu passt auch wiederum, dass die Protagonistin oft als Antiheldin verstanden wird und somit wenig Identifikationspotenzial für die Leserschaft bietet.
- Außerdem ist es fraglich, inwiefern sie aufgrund ihrer geringen Eigeninitiative und der Tatsache, dass sie die fatalen Konsequenzen der Gesundheitsdiktatur nur in diesem einzelnen Fall (Moritz' Selbstmord) erkennt, wirklich als Ikone gelten kann (Vgl. S. 167). An unterschiedlichen Stellen im Werk zeigt Mia ihre Unsicherheit und Ambivalenz in Bezug auf ihre Rolle innerhalb der Bewegung (Vgl. S. 126-129, 141-146).
- Gegen die These der Autorin könnte weiterhin die fehlende Korrespondenz zwischen der Protagonistin und der Bewegung sprechen. Es fällt auf, dass die Bewegung, der Mia Holl angehört, wenig Gemeinschaftsdenken besitzt und sich die einzelnen Anhänger eher distanziert gegenüberstehen (Vgl. S. 196, 203). Zusätzlich sollte man bedenken, dass Mia grundsätzlich einen zurückgezogenen Lebensstil mit wenig Kontakt zur Außenwelt präferiert (Vgl. S. 146).
- Bei der Protagonistin sind bereits zu Beginn des Romans Züge einer Sozialphobie erkennbar. Sie möchte grundsätzlich kein aktives Mitglied der Gesellschaft sein („Nach der Arbeit geht sie nach Hause statt zur Gemeinschaftsaktivität.“, Vgl. S. 146). Diese Denkweise lässt an ihrer Ikonenhaftigkeit zweifeln.
- Auch das friedliche und vorbildhafte Kämpfen für persönliche Freiheit steht in Diskrepanz dazu, dass die Widerstandsbewegung „R.A.K.“ als Terrorgruppe eingestuft wird und sich generell nicht davor scheut, Gewalt einzusetzen, um an ihr Ziel zu gelangen (Vgl. S. 83-85).
- Zusätzlich fällt auf, dass die Etikette „Ikone“ von bspw. Systemanhänger Kramer absichtlich verwendet wird, um ausschließlich ihre Verurteilung als Staatsfeindin zu rechtfertigen (Vgl. S. 188, 208-211).
Schluss
- Mia Holls enge Verbindung zu Moritz und dessen tragischer Tod sind durchaus als Auslöser für ihr aktivistisches Engagement zu sehen. Sie beginnt die rebellische Einstellung ihres Bruders gegenüber dem gesellschaftlichen Gesundheitsregime zu teilen.
- Andererseits sollte man bedenken, dass es gerade das Zusammenspiel aus unterschiedlichen Faktoren ist, das den Transformationsprozess in Gang setzt. Somit ist ihre eigene Entwicklung vielmehr als Ergebnis der Wechselwirkung unterschiedlicher Ursachen (z. B. gesellschaftlicher Druck, Unzufriedenheit und persönliche Motivation) zu sehen und wird nicht ausschließlich durch den Selbstmord ihres Bruders ausgelöst. Deshalb trifft Hordychs These an dieser Stelle nur teilweise zu.
- Hingegen hat das mutige Bestreben der Protagonistin durchaus Vorbildcharakter und kann als ikonenhaft beschrieben werden, da es die Bedeutung von Widerstand in einer repressiven Gesellschaft darstellt und die Notwendigkeit, für die eigenen Rechte und Überzeugungen einzustehen, aufzeigt.