Aufgabenstellung D
Erörterung literarischer Texte
Thema: Juli Zeh: Corpus Delicti Aufgabenstellung:- Erörtere auf der Basis deiner Textkenntnis von Juli Zehs Roman Corpus Delicti, ob bzw. inwiefern du der These des Autors zustimmen kannst.
Anmerkungen zum Autor:
Michael Navratil (* 1988) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Literaturwissenschaft, Neuere Deutsche Literatur an der Universität Stuttgart. Aus: Navratil, Michael: Kontrafaktik der Gegenwart. Politisches Schreiben als Realitätsvariation bei Christian Kracht, Kathrin Röggla, Juli Zeh und Leif Randt. Berlin/Boston 2021, S. 468.
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Einleitung
- Das Werk Corpus Delicti stammt von der Autorin Juli Zeh und wurde 2009 veröffentlicht.
- Es handelt sich um einen dystopischen Roman, der in einem totalitären Überwachungsstaat im 21. Jahrhundert spielt, der gesellschaftliche Entwicklungen kritisch darstellt und die Themen Gesundheit, Überwachung und individuelle Freiheit anspricht.
- Im Mittelpunkt der Handlung steht das Geschwisterpaar Moritz und Mia Holl. Der Protagonist Moritz wird auch in der vorliegenden These des Autors Michael Navratil bezüglich Juli Zehs Corpus Delicti thematisiert. In der nachfolgenden Erörterung sollen sowohl zustimmende als auch ablehnende Argumente im Hinblick auf Navratils These gefunden werden.
Hauptteil
Erläuterung der These- In der These von Michael Navratil in Kontrafaktik der Gegenwart wird argumentiert, dass die Charaktere Moritz Holl und Heinrich Kramer als Vertreter gegensätzlicher ideologischer Extreme dargestellt werden.
- Der Protagonist Moritz Holl repräsentiert den radikalen Individualismus, während Heinrich Kramer als Chefpropagandist der Methode die totalitäre Kontrolle und die Unterordnung des Individuums unter ein kollektives Gesundheitssystem befürwortet.
- Navratil argumentiert, dass der Roman nicht einfach nur diese beiden extremen Positionen in Opposition zueinander zeigt, sondern auch das Versagen beider Haltungen verdeutlicht.
- Im Hinblick auf die in der These angesprochene gegensätzliche Figurenkonstellation fällt von Beginn an auf, dass Moritz Holl und Heinrich Kramer als Gegner eingeführt werden. Moritz wird als Opfer von Kramers Machenschaften dargestellt. Seine Geschwisterliebe zu Mia und sein Streben nach persönlicher Freiheit machen ihn zu einem sympathischen Charakter. Im Roman wird er als „Träumer“ oder „Freidenker“ (Vgl. Kapitel „Genetischer Fingerabdruck“) sowie Liebender (Vgl. Kapitel „Die ideale Geliebte“) beschrieben. Moritz verfolgt seine Überzeugungen bis zum Äußersten und stellt die persönliche Freiheit und Autonomie über alles. Dabei widersetzt er sich den staatlichen Vorschriften.
- Im Gegensatz zu Moritz' liebevoller Art steht Heinrich Kramers kühle Rationalität. Als Chefpropagandist der Methode glaubt er fest an die Wirksamkeit der Vorschriften und Maßnahmen, die die Gesellschaft kontrollieren und optimieren sollen. Seine Ideologie steht für die Gefahren des autoritären Staates und die Unterdrückung individueller Rechte und Freiheiten der Gesellschaft.
- Moritz Holl verkörpert Eigenschaften und Werte, die viele Leser nachvollziehen und schätzen können. Seine menschlichen Schwächen und Gefühle machen ihn zu einer Figur, die nahbar und menschlich wirkt. Das verschärft die Gegensätzlichkeit zu Heinrich Kramer und macht Moritz letztendlich zu einem Charakter, der emotionale Tiefe in den Roman bringt.
- Navratils These betont auch das Scheitern der beiden Figuren. Für das Scheitern der Position von Moritz Holl spricht, dass Moritz' Widerstand gegen die Methode hauptsächlich auf seinen persönlichen Bedürfnissen und Wünschen basiert, wie dem Verlangen nach „Schmerz“, „Rausch“ und „Scheitern“ (Vgl. Kapitel „Das Ende vom Fisch“). Diese Beweggründe bestätigen indirekt Kramers abwertende These, dass Moritz persönliche Probleme mit politischen verwechselt (Vgl. Kapitel „Die zweite Kategorie“).
- Weiterhin werden seine Ideale von Mia kritisiert, was die Schwächen und Widersprüche in Moritz' Haltung aufzeigt (Vgl. Kapitel „Das Ende vom Fisch“). Moritz wird vorgeworfen, heuchlerisch und feige zu sein in Bezug auf seine Vorstellung, die „vollständige Machtfülle über die eigene Existenz“ zu besitzen (Vgl. Kapitel „Das Ende vom Fisch“).
- Wirft man einen Blick auf das mögliche Scheitern der Position von Heinrich Kramer, so fällt zunächst einmal auf, dass der Schauprozess und die mediale Begleitung, für die Kramer verantwortlich ist, ihn als Figur unglaubwürdig machen. Weiterhin stehen sie im Widerspruch zu den propagierten Grundsätzen der Methode (z. B.: Vernunft, Evidenz, objektive Wahrheit) (Vgl. Kapitel „Genetischer Fingerabdruck“, „Bedrohung verlangt Wachsamkeit“).
- Moritz' Verurteilung zeigt die Fehlbarkeit des Systems auf, beispielsweise durch die Mangelhaftigkeit des DNA-Tests und die äußerst einseitige Beweisführung (Vgl. Kapitel „Keine verstiegenen Ideologien“).
- Mias Folter und ihre Bereitschaft, ihre körperliche Unversehrtheit für Machterhalt zu opfern, zeigen außerdem die inneren Widersprüche der Gesundheitsdiktatur auf (Vgl. Kapitel „Mittelalter“).
- Weiterhin wird Kramer als eine eitle und inszenierte Figur dargestellt, deren Fassade zunehmend bröckelt (Vgl. Kapitel „Ambivalenz“, „Mitten am Tag, in der Mitte des Jahrhunderts“).
- Schließlich wird Kramers radikale ideologische Haltung durch seinen zunehmenden Zynismus und Nihilismus entlarvt. Er gibt zu, dass die Methode nur nützlich und nicht komplett fehlerfrei sei (Vgl. Kapitel „Ambivalenz“).
- Gegen die antagonistische Figurenkonstellation der beiden Protagonisten spricht, dass nicht Moritz, sondern seine Schwester Mia Holl in vielen Kapiteln die eigentliche Hauptfigur und Antagonistin von Heinrich Kramer ist. Die Beziehung zwischen Mia und Kramer ist handlungsweisend für den Roman. Mia entwickelt sich zur zentralen Figur im Widerstand gegen die Methode, was die Bedeutung von Moritz als alleiniger Gegenspieler relativiert.
- Entgegen dem Scheitern der Position von Moritz Holl lässt sich argumentieren, dass seine Haltung entscheidend für die innere Befreiung seiner Schwester Mia ist. Durch ihn entwickelt sich Mia zur Antagonistin der Methode und kämpft gegen das System (Vgl. Kapitel „Der größtmögliche Triumph“). Das zeigt, dass seine Ideale und sein Einfluss fortbestehen.
- Außerdem macht der Roman deutlich, dass Moritz bis in den Tod frei bleibt. Sein Motto „Wer stirbt, entwischt“ (Vgl. Kapitel „Mittelalter“) unterstreicht seine Haltung, dass der Tod ihm die ultimative Freiheit bringt. Sein Tod kann daher nicht als vollständiges Scheitern angesehen werden.
- Moritz' Einfluss reicht über seinen Tod hinaus. Er bleibt als ideale Geliebte für Mia präsent und fungiert weiterhin als Symbol und Gegner der Methode. Seine fehlerhafte Verurteilung verstärkt seine Bedeutung als Unruhestifter (Vgl. Kapitel „Der Härtefall“).
- Seine Vorstellung, dass Ewigkeit mehr bedeutet als das rein physische Überleben, manifestiert sich auch in seiner posthumen Bedeutung. Es geht vielmehr um das Fortbestehen von Ideen, Werten und der inneren Freiheit (Vgl. Kapitel „Die ideale Geliebte“). Dies deutet ebenfalls darauf hin, dass er sein Ziel nicht vollkommen verfehlt hat.
- Gegen das Scheitern der Position von Heinrich Kramer sprechen folgende Argumente: Insgesamt fällt auf, dass Kramer zu jeder Zeit im Roman ein dominantes Verhalten gegenüber Mia Holl zeigt. Schließlich gelingt es ihm, die Protagonistin als gebrandmarkte Terroristin aus der Gemeinschaft auszuschließen und ihren Tod zu verhindern, um seine Macht zu demonstrieren (Vgl. Kapitel „Der gesunde Menschenverstand“). Dies zeigt seine erfolgreiche Kontrolle und Macht über das System und seine Gegner. Außerdem verhindert Kramer damit, dass Mia als Märtyrerin verehrt wird (Vgl. Kapitel „Zu Ende“).
- Die Methode plant die Reintegration Mias in die Gemeinschaft, was Kramers Sieg über den Widerstand symbolisiert (Vgl. Kapitel „Zu Ende“). An dieser Stelle wird seine erfolgreiche Durchsetzung der Methode verdeutlicht.
- Weiterhin zeigt Kramers Sieg über Mia erneut den Sieg über Moritz und räumt damit mögliche Zweifel am System aus. (Vgl. Kapitel „Geruchlos und klar“).
Schluss
- In der kritischen Auseinandersetzung mit Navratils These lassen sich einige Argumente finden, die dafür sprechen, dass Moritz Holl und Heinrich Kramer als gegensätzliche Figuren für individuelle Freiheit und autoritäre Kontrolle fungieren. Der Roman zeigt ihre Schwächen und das Scheitern ihrer Haltungen. Beispielsweise basiert Moritz’ Widerstand auf persönlichen Bedürfnissen und Kramers System offenbart Fehler und Widersprüche. Aus der Erörterung wird jedoch auch ersichtlich, dass insbesondere das Scheitern und die Erfolge der Figuren nicht absolut zu sehen, sondern offen für Interpretation und Reflexion sind und auch die Gegensätzlichkeit der Protagonisten relativiert werden kann.
- Insgesamt lässt sich sagen, dass Juli Zehs Corpus Delicti weit über die einfache Darstellung eines Konflikts zwischen zwei extremen Ideologien hinausgeht und zeigt, dass weder der radikale Individualismus noch der totalitäre Kollektivismus als Lösung für gesellschaftliche Probleme geeignet sind. Der Roman vermittelt, dass Extreme in der realen Welt oft scheitern und dass möglicherweise ein Mittelweg notwendig ist, um gesellschaftliche und individuelle Bedürfnisse zu erfüllen.
- Dies kann auch als Appell an die Leserschaft verstanden werden, ideologische Starrheit zu vermeiden und nach pragmatischen, ausgewogenen Lösungen zu suchen.