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Basiswissen

Aufgabenstellung A

Hinweis: Von den vier vorgelegten Aufgabenstellungen ist eine zur Bearbeitung auszuwählen.

Erörterung pragmatischer Texte

Thema:
Paul Sailer-Wlasits (* 1964): Die Metastasen des Hasses (2019)
Aufgabenstellung:
  • Stelle den Argumentationsgang des Textes Die Metastasen des Hasses dar und erläutere die Intention des Textes. (ca. 40 %)
  • Erörtere die vom Autor vorgeschlagenen Möglichkeiten des Umgangs mit Hassrede. Beziehe die im Text entfalteten Perspektiven auf Hassrede ein. (ca. 60 %)
Material
Die Metastasen des Hasses
Paul Sailer-Wlasits
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Die Versprachlichung von Hass ist kein neues Phänomen. Wie epidemisch sich Hassreden
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verbreiten, hingegen schon. Was läge daher näher, als einen Prozentsatz jener staatlichen
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Mittel, die weltweit für den digitalen Wandel bereitstehen, in die Humanisierung des digitalen
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sprachlichen Miteinanders zu investieren?
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Anstatt die Hasssprache aber systematisch und global zurückzudrängen, werden mit
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unzulänglichen Ressourcen nationale und regionale Scharmützel ausgefochten. Diffuse
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Plattformregeln samt überforderten Moderatorinnen sperren auf Social-Media-Plattformen
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Satire-Accounts, während Menschenfeinde weitersenden dürfen. Politikerinnen werden aufs
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Übelste beleidigt – und Gerichte bewerten das als legitime Meinungsäußerung. Und hat das
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Netzwerkdurchsetzungsgesetz in Deutschland eigentlich irgendetwas Substanzielles
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durchgesetzt?
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Hassreden waren und sind sprachliche Schatten der menschlichen Kulturgeschichte. Erst vor
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wenigen Jahrzehnten, als der Zivilisationsprozess bereits weit fortgeschritten schien, geriet die
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Sprache in den monströsen Würgegriff von Totalitarismen. Der schrecklichsten aller Mensch-
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heitskatastrophen ging eine Deformation der Sprache zu hassverzerrtem, rassistischem
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Wortgut voran.
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Die verrohte Diktion der NS-Diktatur zerschlug die Sprache des Deutschen Idealismus.
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Verbale Umcodierungen und Hasssprache durchsetzten den Alltag. Auf derartiger sprachlicher
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Kontamination, auf solchen toxischen Resten von ethnisch und religiös herabwürdigendem
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Vokabular gründet die Hassrede unserer Tage. Die Sprache des Hasses bewirkt einen
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Zusammenbruch der Symmetrie bestehender Verhältnisse der Anerkennung. Sprachliche
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Grenzen werden bedenkenlos übertreten, inhumane Sprachentgleisungen destabilisieren den
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Diskurs, es triumphiert der rhetorische Effekt.
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Und: Hasssprache metastasiert und richtet sich – etwa aus rechtsextremer Sicht – nicht nur
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gegen jene Menschen, die angeblich das Abendland und die je eigene monokulturell definierte
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Nation von außen bedrohen, sondern auch gegen jene, die sich als „Verräter am Volk“ für die
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Schutzsuchenden engagieren. Hassreden sind bei Weitem nicht der einzige Grund für die
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Ereignisse in Chemnitz, in Halle oder den Tod von Walter Lübcke. Doch es wäre ebenso
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naiv zu behaupten, ein von zahllosen sprachlichen Übertretungen geprägter Alltag hätte keine
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vorbereitende Wirkung für Handlungen, in denen die Tat das Wort überschreitet.
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Dort, wo Sprachhandlungen beginnen, zur Verletzungsgefahr durch Sprache zu werden,
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brechen Konkurrenzverhältnisse auf zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung und
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dem Gebot des Schutzes der Menschenwürde. Ethik und Moral gründen auf der Anerkennung
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zwischenmenschlicher Grenzen. Das gegenwärtige Problem: Wie verständigt man sich noch
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über die Grenzen, wenn selbst die US-Administration Social Media als Massen-
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verbreitungswaffe nutzt? Und wer soll dann noch über die Einhaltung der Grenze wachen?
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Anstatt das First Amendment einem sanften juristischen Facelifting zu unterziehen, sind die
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USA und der größte Teil ihrer Staatsbürger stolz auf ihren in die Jahre gekommenen
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Verfassungszusatz aus 1791, in welchem die freie Rede vor Einschränkungen geschützt wird.
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Von einigen Ausnahmen, wie etwa der direkten sprachlichen Bedrohung anderer abgesehen,
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besitzt Free Speech in den USA eine nahezu unumschränkte Sonderstellung. Eine aus der
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Perspektive des europäischen Kultur- und Geschichtsverständnisses kaum verdauliche
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Attitüde.
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Unter diesen Voraussetzungen werden sprachliche Sonderdeformationen möglich, sogar
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offene politische Lügen können jederzeit unter dem Deckmantel der freien Rede zu
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„Diskussionsbeiträgen“ und „Meinungen“ emporgehoben werden. Jedwede Extremposition
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kann als „demokratische Partizipation“ bedenkenlos in den Diskurs infiltriert werden – und
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längst gibt es auch in Europa populistische Kräfte, die vorgeschobene Bedenken, hinter die
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USA freiheitlich zurückzufallen, nutzen, um Unsagbares sag- und sendbar zu machen.
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Dabei ist auch zu beobachten, wie schleichend das Gift des Verbalradikalismus wirkt: Bereits
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bevor die Sprache rhetorisch umschlägt und in veränderter Wort- und Satzsemantik sichtbar
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wird, also in offen rassistischer, herabwürdigender oder gewaltlegitimierender Sprache,
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existiert bereits die Intention eines sprachlichen Missbrauchs. Überall dort, wo Sprache den
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Modus des Allgemeinen verlässt und in einen „Modus der Anrede“ (Judith Butler) wechselt,
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kann Hasssprache entstehen. Sobald der Sprechende beginnt, sein Gegenüber zu bestimmen
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und auf bestimmte Identitäten festzulegen, übertritt er eine bedeutsame Grenze. Letztlich fehlt
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nur noch die explizite Herabwürdigung und das Definieren des Anderen als Gefahr für das je
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Eigene, damit definitiv Verletzungsgefahr besteht – sei es durch Sprache (zunächst) und
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physisch (in der Folge).
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Der Übergang vom Wort zur Tat bleibt jedoch ein qualitativer Sprung. Dieser ist nicht aus einer
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einzigen Ursache herleitbar, sondern entspricht Vorgängen von sich gegenseitig
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verstärkenden Sprechakten, kumulativen Wirkungen von Sprachhandlungen, aus
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semantischen Auf- und Überladungen und aus daraus ableitbaren Handlungsanweisungen.
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Der latente Hass wird durch die Sprache aufgeweckt, er wird manifest und immer weiter
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gesteigert bis zu seiner Entladung, denn eines kann die Hasssprache ja eben nicht: sich selbst
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mäßigen und disziplinieren.
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Langfristig ist die Investition in politische Bildung die wirksamste und günstigste Präventiv-
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maßnahme gegen Hassrede – allerdings jene Form der geistigen Festigung, die von
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humanistischen Werten durchdrungen ist und weder der verbalen Ausgrenzung noch der
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Perfidie rhetorischer Entgrenzung dient.
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Mittelfristig wären behutsame gesetzliche Regelungen und deren Kontrolle wünschenswert.
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Aber Vorsicht: Das Risiko der Beschädigung von Meinungsfreiheit ist beträchtlich, wenn
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staatliche Organe darüber entscheiden, ob Hasssprache vorliegt, oder auch, ob (etwa von
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einer Social-Media-Plattform) systematisch Hass und Lügen verbreitet werden. Entscheiden
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Rechtsprechende dann basierend auf ihrer subjektiven Lesetradition und Bildung oder etwa
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auf der Grundlage von Checklisten darüber, was Hassrede ist? Und was davon wäre uns
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künftig lieber? Überhaupt: Können einzelne Richter darüber entscheiden, wie verletzend
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verbale Aggression auf eine konkrete Person (mit ihrer individuellen Vorgeschichte) in einer
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bestimmten Situation gewirkt hat? Oder bedarf es dafür mindestens einer Hass-Jury samt
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Sachverständigen?
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Kurzfristig wäre die Vorbildfunktion von Politikern, Medien und all jenen Menschen von
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eminenter Bedeutung, die als gesellschaftliche Multiplikatoren wirken. Vorbildwirkung ist im
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Unterschied zu staatlicher Repression kostenlos. Nicht erst die nächste Legislaturperiode,
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sondern bereits die nächste Parlamentsrede und der nächste Wahlkampf bieten Gelegenheit
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zu verbaler Deeskalation im Sinne politischer Sprachkultur. Gleichzeitig weist dieser Vorschlag
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auch schon auf eine Schwäche der Herangehensweise: Es macht Hassrede ja gerade so
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attraktiv für bestimmte Charaktere, dass sie – anders als zurückgenommene Sprache –
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Aufmerksamkeit erzeugt. Die kultivierte Gegenrede ist stets argumentierend, begründend und
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erklärend, daher ist und bleibt sie rhetorisch-wirkungspsychologisch im Nachteil gegenüber
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der kurzen, scharfen, schneidenden Hassrede.
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Gerade weil Hasssprache aufgrund vielfältigster Ursachen entsteht, greifen eindimensionale
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Lösungsansätze – wie bei allen komplexen Problemen – zu kurz. Weder die Strafrechts-
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verschärfung allein noch einzelne Präventivmaßnahmen werden das vielgestaltige Phänomen
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unter Kontrolle bringen. Nur das Zusammenwirken von lang-, mittel- und kurzfristigen
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Maßnahmen kann, wie ein komplementärer Therapieansatz, die Hassrede in ihrer Gesamtheit
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erfassen, fixieren und allmählich auf ein sozial erträgliches Maß eindämmen. Das klingt sperrig
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und wird anstrengend – denn die Hassrede wird sich mit Verweis auf die (falsch verstandene)
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Freiheit gegen jede Maßnahme zu immunisieren versuchen. Doch ohne alle erdenklichen
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Schritte und Manöver entfaltet sie schon bald ihr ganzes zerstörerisches Potenzial.

Paul Sailer-Wlasits (* 1964) ist ein österreichischer Autor, Sprachphilosoph und Politikwissenschaftler.
Aus: Sailer-Wlasits, Paul: Metastasen des Hasses; (2019) (Zugriff: 02.03.2021)

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