Aufgabenstellung C
Hinweis: Die im Unterricht verwendete Werkausgabe des Dramenfragments bezieht sich auf unterschiedliche Textfassungen des Autors. Ggf. weicht der vorliegende Textauszug aus Georg Büchners Woyzeck von der im Unterricht verwendeten Werkausgabe ab.
Aus: Role Model. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik; (Zugriff: 12.03.2022) Material 2 Das zweifelhafte Ideal der Geistlosigkeit (2013) Jan-Christoph Hauschild
Anmerkung: In den ersten Handschriften zum Woyzeck nennt Büchner Marie noch Louise. Jan-Christoph Hauschild (* 1955) ist Literaturwissenschaftler und Publizist. Aus: Hauschild, Jan-Christoph: Das zweifelhafte Ideal der Geistlosigkeit; (2013) (Zugriff: 18.01.2022) Material 3 Woyzeck (1836/37) Georg Büchner 4. Szene (H4,4) Marie sitzt, ihr Kind auf dem Schoß, ein Stückchen Spiegel in der Hand.
Aus: Büchner, Georg: Woyzeck. Stuttgart 2005, S. 14 f. Material 4 Woyzeck (2020) Andreas Eikenroth
Andreas Eikenroth (* 1966) ist Comiczeichner und Illustrator.
Aus: Eikenroth, Andreas: Woyzeck. Wuppertal 2020, S. 20.
Material 5
Marie (2013)
Ruth Drexel
Ruth Drexel (1930-2009) war Schauspielerin und Regisseurin. Sie inszenierte als erste Frau am Bayrischen Staatsschauspiel. Aus: Drexel, Ruth: Marie. In: Hauschild, Jan-Christoph: Georg Büchners Frauen. München 2013, S. 231 f. Material 6 Georg Büchner: „Woyzeck“ (1980) Albert Maier
Albert Meier (* 1952) ist Literaturwissenschaftler und Philologe. Er verfasste seine Promotion zu Georg Büchner. Aus: Meier, Albert: Georg Büchner: „Woyzeck“. München 1980, S. 39. Material 7 Georg Büchner (1994) Henri Poschmann
Henri Poschmann (* 1932 - † 2022) war Literaturwissenschaftler, Germanist und Philologe. Schwerpunkt seiner Arbeiten war die deutsche Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts. Insbesondere beschäftigte er sich mit Georg Büchner. Aus: Poschmann, Henri: Georg Büchner. In: Pörnbacher, Karl et alii: Georg Büchner: Werke und Briefe. München 1994, S. 596 f.
Materialgestützes Verfassen argumentierender Texte
Thema: Georg Büchner: Woyzeck (1836/37) Aufgabenstellung:- An Deiner Schule findet ein fächerübergreifendes Projekt zum Thema Role Models in Literatur und Kunst statt. Deine Projektgruppe beschäftigt sich mit der Figur der Marie in Büchners Woyzeck.
- Verfasse für das Begleitheft des Projekts einen Kommentar zu der Frage, ob bzw. inwiefern Marie als Rollenvorbild für emanzipierte Frauen geeignet ist.
- Nutze dazu die folgenden Materialien (1-7) und beziehe im Unterricht erworbenes Wissen ein. Wähle eine geeignete Überschrift.
- Zitate aus den Materialien werden dem Stil eines Kommentars entsprechend ohne Zeilenangabe, nur unter Nennung der Autorinnen und Autoren und ggf. des Titels aufgeführt.
- Dein Beitrag sollte etwa 1000 Wörter umfassen.
1
Rollenmodell bezieht sich auf eine Person, real oder fiktiv, die ihre Rolle als gutes oder
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schlechtes Beispiel für andere ausfüllt. Ein gutes Beispiel ist ein positives Rollenmodell, ein
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schlechtes Beispiel ist ein negatives Rollenmodell. Ein positives Rollenmodell übt eine Rolle
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aus, indem es Werte, Denk- und Handlungsweisen vorlebt, die in dieser Rolle als positiv
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angesehen werden, sodass andere hoffentlich dem Beispiel folgen sollten. Eine Professorin
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an einer Universität kann in diesem Sinn als Vorbild für andere Frauen gesehen werden, da
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sie das Profil von Frauen in der Wissenschaft fördert. Alternativ kann sie aufgrund ihrer
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akademischen Leistungen bzw. ihres Engagements in ihrem gewählten Fachgebiet als Vorbild
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für angehende Akademiker, unabhängig von ihrem Geschlecht, gesehen werden.
Aus: Role Model. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik; (Zugriff: 12.03.2022) Material 2 Das zweifelhafte Ideal der Geistlosigkeit (2013) Jan-Christoph Hauschild
1
Was sagt es eigentlich über Georg Büchner aus, dass die Frauenfiguren in seinen Werken
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sinnlich, aber nicht besonders klug sind. Und warum sind sie beim Publikum trotzdem so
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beliebt? [...]
4
Ein „arm Weibsbild“, aber keine Analphabetin
5
Auch die weibliche Hauptfigur, nun Louise genannt, wird weiterentwickelt. Sie ist vermutlich
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um die zwanzig Jahre alt, hat von Franz ein nichteheliches Kind und lebt in kümmerlichen
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Verhältnissen. Selbstbewusst ist diese Louise, nicht auf den Mund gefallen und dem Leben
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zugewandt. Empfänglich für Schönheit ist sie obendrein und lebhaft an Abwechslung
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interessiert. Als Soldaten mit klingendem Spiel an ihrer Wohnung vorbeimarschieren, schaut
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sie dem Spektakel zusammen mit ihrem kleinen Sohn vom Fenster aus zu. In der
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Bewunderung des schmucken Tambourmajor ist sie sich mit ihrer Nachbarin einig.
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In Franz Woyzeck hat Louise einen Quasi-Ehemann, der allerdings seltsames Zeug von sich
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gibt, womit er ihr Angst macht. Immerhin weiß Franz, was er Louise schuldig ist und verspricht
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ihr für den Abend einen Gang über den Jahrmarkt. Bei diesem Spaziergang wird Louise vom
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Tambourmajor und seinem Kameraden, einem Unteroffizier, heimlich beobachtet. Nicht
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Louises eigenes Reden und Handeln ist es, wodurch sie sich als Sexualobjekt profiliert,
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sondern das Gerede der Männer über sie. Sie bewundern die Haltung ihres Kopfes, ihr
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schwarzes Haar und ihren unergründlichen Blick, während ihre eigentlichen
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Geschlechtsmerkmale ausgespart bleiben; das scheint sich von selbst zu verstehen. Von
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„Fortpflanzen“ und „Zucht“ ist die Rede, Marie wird einem Reproduktionstier gleichgesetzt.
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Offenbar kommt es zu einer intimen Begegnung zwischen beiden, denn in der übernächsten
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Szene macht der Hauptmann Woyzeck gegenüber bereits Andeutungen über Louises
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garnisonsbekanntes Verhältnis zum Tambourmajor. Als Franz Louise daraufhin zur Rede
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stellt, lässt sie sich zu keinem Geständnis provozieren, hält ihm im Gegenzug seine
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Verrücktheit vor, woraufhin er in seiner Erregung „auf sie los“ geht. Louise hält ihm
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unerschrocken stand; Franz gibt klein bei, klammert sich an den Glauben an ihre Unschuld.
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Die letzte notierte Szene zeigt Louise als reuige Sünderin, „allein“ beim „Gebet“.
Anmerkung: In den ersten Handschriften zum Woyzeck nennt Büchner Marie noch Louise. Jan-Christoph Hauschild (* 1955) ist Literaturwissenschaftler und Publizist. Aus: Hauschild, Jan-Christoph: Das zweifelhafte Ideal der Geistlosigkeit; (2013) (Zugriff: 18.01.2022) Material 3 Woyzeck (1836/37) Georg Büchner 4. Szene (H4,4) Marie sitzt, ihr Kind auf dem Schoß, ein Stückchen Spiegel in der Hand.
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Marie (bespiegelt sich.) Was die Steine glänze! Was sind's für? Was hat er gesagt? – Schlaf
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Bub! Drück die Auge zu, fest! (das Kind versteckt die Augen hinter den Händen), noch
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fester, bleib so, still oder er holt dich. (Singt.)
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Mädel, mach's Ladel zu
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's kommt e Zigeunerbu,
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Führt dich an deiner Hand
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Fort ins Zigeunerland.
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(Spiegelt sich wieder.) 's ist gewiss Gold! Unsereins hat nur ein Eckchen in der Welt und
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ein Stück Spiegel und doch hab ich ein' so roten Mund als die großen Madamen mit
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ihren Spiegeln von oben bis unten und ihren schönen Herrn, die ihnen die Händ'
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küssen; Ich bin nur ein arm Weibsbild. – (Das Kind richtet sich auf.) Still Bub, die Auge
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zu! Das Schlafengelchen! wie's an der Wand läuft (Sie blinkt ihm mit dem Glas) Die
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Auge zu, oder es sieht dir hinein, dass du blind wirst.
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(Woyzeck tritt herein, hinter sie. Sie fährt auf mit den Händen nach den Ohren.)
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Woyzeck: Was hast du?
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Marie: Nix.
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Woyzeck: Unter deinen Fingern glänzt's ja.
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Marie: Ein Ohrringlein; hab's gefunden.
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Woyzeck: Ich hab' so noch nix gefunden, zwei auf einmal.
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Marie: Bin ich ein Mensch?
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Woyzeck: 's ist gut, Marie. – Was der Bub schläft. Greif ́ ihm unters Ärmchen der Stuhl
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drückt ihn. Die hellen Tropfen steh ́n ihm auf der Stirn; alles Arbeit unter der Sonn,
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sogar Schweiß im Schlaf. Wir arme Leut! Das is wieder Geld Marie; die Löhnung und
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was von mein ́m Hauptmann.
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Marie: Gott vergelt's Franz.
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Woyzeck: Ich muss fort. Heut abend, Marie. Adies.
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Marie (allein, nach einer Pause): Ich bin doch ein schlecht Mensch. Ich könnt' mich
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erstechen. – Ach! Was Welt? Geht doch alles zum Teufel, Mann und Weib.
Aus: Büchner, Georg: Woyzeck. Stuttgart 2005, S. 14 f. Material 4 Woyzeck (2020) Andreas Eikenroth

1
Weibliche Sexualität ist auf der Bühne noch so tabuisiert, daß man völlig entgeistert angeguckt
2
wird, wenn man konkret davon ausgeht, daß sie eine natürliche Triebfeder ist, auch von
3
Frauen. Das kurz vor dem Jahre 2000! Da waren die Klassiker doch schon genauer. Zum
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Beispiel in Büchners „Woyzeck“; da gibt es diese Szene zwischen Marie und dem
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Tambourmajor. [...] Also sie läßt ihn da vor sich paradieren, er muß sich als Objekt ausstellen,
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wird taxiert, mit diesem Blick, wie er üblicherweise dem Mann auf die Frau zugestanden wird.
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Sie will ihn. Und nun fängt er dummerweise zu reden an. [...] Sie findet das total blöd, wie er
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sich spreizt, sagt spöttisch: „Ach was!“ Taxiert ihn noch mal und sagt: „Mann!“
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Und er redet weiter: „Und du bist auch ein Weibsbild! Sapperment, wir wollen eine Zucht von
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Tambourmajors anlegen. He?“ Und da entzieht sie sich, macht aber zuletzt das Zugeständnis:
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„Meinetwegen! Es ist alles eins!“ In diesem Text findet man ein ganz anderes Bild von
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weiblichem Begehren, von weiblicher Sexualität, als es sogar die moderne Vorstellung zuläßt.
Ruth Drexel (1930-2009) war Schauspielerin und Regisseurin. Sie inszenierte als erste Frau am Bayrischen Staatsschauspiel. Aus: Drexel, Ruth: Marie. In: Hauschild, Jan-Christoph: Georg Büchners Frauen. München 2013, S. 231 f. Material 6 Georg Büchner: „Woyzeck“ (1980) Albert Maier
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Wie Woyzeck ist Marie in sich eine gebrochene Figur. Sie vertritt keineswegs die rein sinnliche
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Kreatürlichkeit, die sich souverän über sittliche Schranken hinwegsetzen würde; nur ihre Armut
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zwingt sie zu prostitutionsähnlichen Handlungen, die sie vor sich selbst nicht verantworten
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kann: der körperlich und sozial besser gestellte Tambour-Major muß ihr Woyzeck ersetzen,
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den seine Arbeitssituation gebrechlich gemacht hat. Schließlich beruht die Faszinationskraft
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des Tambour-Majors nicht allein auf seinen erotischen Qualitäten, sondern vor allem auf seiner
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imposanten Äußerlichkeit, die mit Maries und Woyzecks Armseligkeit verlockend kontrastiert:
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Uniform, Repräsentieren bei Paraden, Geschenke, staatlich bestätigte Körperkraft. – Trotz
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dieser inneren Gebrochenheit, die Marie vor den anderen eindimensionalen Figuren im Stück
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auszeichnet, zieht sie wie Woyzeck keine Konsequenzen: was eine notwendige Folge der
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sozialen Verhältnisse ist, wird von ihr nur als persönliche Amoralität betrachtet – sie selbst hält
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sich für schuldig. Weil sie keine Möglichkeit hat, sich zu wehren, muß sie alles geschehen
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lassen und gleichgültig werden. Die für Marie unkontrollierbaren Umstände sind übermächtig:
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„Ach! Was Welt? Geht doch Alles zum Teufel, Mann und Weib.“
Albert Meier (* 1952) ist Literaturwissenschaftler und Philologe. Er verfasste seine Promotion zu Georg Büchner. Aus: Meier, Albert: Georg Büchner: „Woyzeck“. München 1980, S. 39. Material 7 Georg Büchner (1994) Henri Poschmann
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Es ist für Marie ebensowenig wie für Woyzeck ein Moralkonflikt, der sie bedrängt. Das Stück
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so zu lesen hieße, seine materialistisch konstituierte Dramaturgie zu verkennen oder zu
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entstellen. Nicht um den Widerspruch von Individuen gegen ein ehernes Moralgesetz handelt
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es sich hier, sondern um die Kollision ihres naturgegebenen Rechtsanspruchs zu leben, und
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zwar als sie selbst und für sich selbst, mit den entfremdenden und zerstörerischen
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gesellschaftlichen Zwängen, die die Menschen gegeneinander und damit jeden auch gegen
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sich selbst treiben [...].
Henri Poschmann (* 1932 - † 2022) war Literaturwissenschaftler, Germanist und Philologe. Schwerpunkt seiner Arbeiten war die deutsche Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts. Insbesondere beschäftigte er sich mit Georg Büchner. Aus: Poschmann, Henri: Georg Büchner. In: Pörnbacher, Karl et alii: Georg Büchner: Werke und Briefe. München 1994, S. 596 f.
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Überschrift
Marie als ambivalentes Rollenvorbild in Georg Büchners WoyzeckEinleitung
- Das Drama Woyzeck stammt aus der Feder des Autors Georg Büchner und wurde 1836/37 veröffentlicht.
- Der Soldat Franz Woyzeck ist der Protagonist der Handlung. Mit seiner Frau Marie und ihrem gemeinsamen Sohn lebt er in ärmlichen Verhältnissen.
- Das Werk behandelt Themen wie Armut, Ausbeutung, soziale Ausgrenzung und Eifersucht sowie psychische Zerrüttung und gibt einen Einblick in die ungerechten gesellschaftlichen Verhältnisse zu dieser Zeit. Auch in Bezug auf die Darstellung der Frauenfiguren und der Konzeption von Weiblichkeit weist das Drama einige interessante Aspekte auf.
- Im folgenden Kommentar mit dem Titel „Marie als ambivalentes Rollenvorbild in Georg Büchners Woyzeck“ soll thematisiert werden, ob und inwiefern die Figur Marie als Rollenvorbild für emanzipierte Frauen geeignet ist.
Hauptteil
Die Figur Marie ist als Rollenvorbild für emanzipierte Frauen geeignet:- Marie (bzw. Louise) wird als lebhafte, attraktive und selbstbewusste Frau sowie liebende und fürsorgliche Mutter beschrieben, die in Hinblick auf erzieherische Tätigkeiten hauptsächlich auf sich allein gestellt ist (M 2, M3).
- Trotz der Tatsache, dass Marie mit ihrer Familie in prekären Verhältnissen lebt, zeigt sie sich neugierig, lebensfroh und sucht Sinn und Freude in einfachen und schönen Momenten wie z. B. an dem Vorbeimarschieren der Soldaten (M2). Jedoch sehnt sie sich auch insgesamt nach Abwechslung und Veränderung in ihrem Leben (M2, M3).
- Marie hat Träume und Wünsche (z. B. eine bessere Lebenssituation für ihr Kind), die sie zwar nicht umsetzen kann, da sie durch ihr gesellschaftliches Schicksal determiniert ist, jedoch weisen die Träume auf ihre Individualität und Menschlichkeit hin. Ebenfalls plagen sie Ängste, denen sie Ausdruck verleiht. Generell bekommt der Leser einen Einblick in eine komplexe und vielschichtige Persönlichkeit. Sie erlebt emotionale und soziale Herausforderungen und wird zu einer Figur, die neben anderen Figuren im Mittelpunkt der Handlung steht. Im Vergleich zu vorherigen Epochen, in denen Frauen häufig als Stereotypen dargestellt wurden, gleicht dies beinahe einem Novum innerhalb der Literatur. Marie ist ein Beispiel für eine Frau ihrer Epoche, die erstmals eigenständig Entscheidungen trifft, darin nicht ausschließlich von Männern beeinflusst wird und sich demnach auch durch eine gewisse Autonomie auszeichnet. Dies fällt auch in ihrem selbstbestimmten und souveränen Verhalten gegenüber dem Tambourmajor auf („Lass' mich!“, „Rühr mich an!“; M4; „Also sie läßt ihn da vor sich paradieren, er muß sich als Objekt ausstellen, wird taxiert, mit diesem Blick, wie er üblicherweise dem Mann auf die Frau zugestanden wird. Sie will ihn.“, M5).
- Auf Franz' wahnsinniges Verhalten reagiert sie widerstandsfähig und selbstbewusst. Sie besitzt die Fähigkeit, sich gegen Vorwürfe zu wehren (M2). Insgesamt zeugt sie im Werk im Gegensatz zu anderen Frauenfiguren (z. B. Margreth) von Schlagfertigkeit (M3) sowie emotionaler Stärke und Reife.
- Sie zeigt Reue vor den Konsequenzen ihrer begangenen Handlungen (M 2), auch wenn es am Ende des Dramas dafür zu spät ist.
- Marie bricht die Tabus in Bezug auf weibliche Sexualität und verweigert die bestehenden, normierten Frauenkonzeptionen. Sie etabliert ein neues Körperbewusstsein und ist ihrer Zeit weit voraus (M6). Damit könnte auch ihre mitverursachte Profilierung als Sexualobjekt lediglich als Zeichen von Widerstand und Rebellion gegen das damals festgelegte Frauenbild verstanden werden und für die Autonomisierung ihrer weiblichen Sexualität und Dominanz stehen, da sich Marie durchaus in einem Konflikt zwischen Widerstand und gesellschaftlicher Anpassung und Nachgiebigkeit befindet.
- Maries emanzipatorisches Bestreben in einer Zeit, in der es Frauen schwer haben, sich gegen den Determinismus (M7) und die Konformität innerhalb der Gesellschaft durchzusetzen, spricht für ein vorbildliches Rollenbild. Sie möchte trotz ihres Schicksals Lebensfreude empfinden (M1).
- Im Gegensatz zu ihren mütterlichen Qualitäten und ihrer Eigenständigkeit steht ihre Profilierung als Sexualobjekt. Im Laufe des Dramas wird sie zu einem rein ästhetischen und sexuellen Objekt degradiert (M2, M3). Damit verliert sie auch ihre eingangs betonte Lebendigkeit und Individualität.
- Diese Tatsache verweist auf die Gesellschaftsmodelle und Geschlechterkonzeptionen zu dieser Zeit. Auch Marie unterliegt den gesellschaftlichen Restriktionen. Im Gegensatz zu früheren Epochen, in denen Frauenfiguren idealisiert wurden, entspricht die Lebensform und soziale Not von Marie und anderen Figuren im Werk der Realität des 19. Jahrhunderts. Generell erhält die Diskussion rund um die Sexualität zwischen Mann und Frau, die zuvor in literarischen Werken eher gemieden wurde, da sie gesellschaftlichen Tabuisierungen unterlag, einen ganz neuen Stellenwert. Lediglich die weibliche Sexualität wird weiterhin als problematisch dargestellt.
- Zusätzlich wird Marie als leicht verführbare Frau beschrieben („sinnlich, aber nicht besonders klug“, M2). Dies könnte einen Hinweis auf ihre geringe Reflexionsfähigkeit beinhalten, jedoch ebenfalls der Auffassung von einseitigen, konventionellen Frauenbildern zu dieser Zeit entsprechen.
- Selbstverständlich hat ihr Streben nach Veränderung und Abwechslung jedoch auch einen negativen Beigeschmack. So bewundert sie bspw. den Tambourmajor („Bewunderung des schmucken Tambourmajor“, M2) und spielt ihm gegenüber bewusst mit ihren Reizen (M2, M5). Es ist fraglich, inwiefern sich Marie damit in gewisser Weise selbst als Objekt männlicher Begierde profiliert und das Frauenbild zu ihrer Zeit sogar noch intensiviert (M4, M5, M6).
- Außerdem könnte man Marie eine gewisse Eitelkeit und ein überhebliches Selbstverständnis ihres Äußeren unterstellen. Stellenweise wirkt sie oberflächlich und so, als würde sie sich durch Äußerlichkeiten und materielle Dinge (wie die geschenkten Ohrringe des Tambourmajors, M3) sehr schnell blenden lassen (M3, M6; Vgl. Ganzschrift, Szene 6 ).
- Die Nutzung von Gespenstergeschichten als Einschlafgeschichte für ihren Sohn zeugt nicht unbedingt von erzieherischem Talent und Einfühlsamkeit (M3).
- Ihre emotionale Stärke könnte je nach Situation natürlich auch als fehlendes Einfühlungsvermögen gegenüber ihrem Mann bewertet werden. Weiterhin kann Marie als passive Figur gesehen werden, die sich in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem Mann Franz befindet und wenig Entschlossenheit, Reflexionsfähigkeit (M2, M3, M6) und Skrupel zeigt („Ach, was Welt! Geht doch alle zum Teufel, Mann und Weib!“, M3).
- Ihr Verhältnis mit dem Tambourmajor ist moralisch zutiefst fragwürdig. Ihre Motivation für diese Handlung stellt keinen legitimen Grund dar, um ihrem Mann fremdzugehen.
- Als Franz Marie auf ihr mögliches Verhältnis zum Tambourmajor anspricht, bleibt sie gelassen, spricht nicht die Wahrheit aus und verhält sich somit unehrlich. Stattdessen unterstellt sie Franz Verrücktheit (M 2). Generell hat der Leser das Gefühl, dass Marie viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, um Woyzecks psychischen Zustand zu erkennen und ihm hinsichtlich seiner Psychose weder Achtung schenkt noch Anzeichen zeigt, ihren Mann wirklich verstehen zu wollen. Stattdessen hat sie Angst vor ihrem „Quasi-Ehemann, der [...] seltsames Zeug von sich gibt“ (M2). Marie übernimmt damit auch in ihrer Rolle als Partnerin keinerlei Verantwortung.
Schluss
- Woyzeck ist ein expressionistisches Drama, welches sozialkritische Elemente in den Vordergrund der Erzählung stellt. Es handelt sich um eine Epoche, die, insbesondere im Gegensatz zu früheren Epochen, weitaus mehr Realitätsnähe und Sensibilität hinsichtlich gesellschaftlicher Rollenbilder aufweist. Marie wird von äußeren Gegebenheiten determiniert und es fällt ihr nicht leicht, dagegen anzukämpfen und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.
- Speziell Maries tragisches Ende zeigt jedoch auf kritische Weise auf, welches Leiden aus der Unterdrückung der menschlichen Natur resultieren kann. Das Werk hinterfragt damit berechtigterweise auch die Moralvorstellungen der damaligen Gesellschaft.
- Es fällt jedoch nicht nur wegen des unmoralischen Fehlverhaltens schwer, Marie ausschließlich als klassisches, emanzipiertes Frauenvorbild zu bewerten. Maries Charakter zeichnet sich durch Ambivalenz und Facettenreichtum aus. Die begrenzten Möglichkeiten und sozialen Zwänge ermöglichen es ihr nicht, komplett autonom zu handeln. Durch ihre Gedanken und Handlungen stellt Marie das zeitgenössische Frauenbild trotzdem infrage und macht auf die Herausforderungen und Schwierigkeiten einer Frau im 19. Jahrhundert aufmerksam.