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Basiswissen

Aufgabenstellung C

Hinweis: Die im Unterricht verwendete Werkausgabe des Dramenfragments bezieht sich auf unterschiedliche Textfassungen des Autors. Ggf. weicht der vorliegende Textauszug aus Georg Büchners Woyzeck von der im Unterricht verwendeten Werkausgabe ab.

Materialgestützes Verfassen argumentierender Texte

Thema:
Georg Büchner: Woyzeck (1836/37)
Aufgabenstellung:
  • An Deiner Schule findet ein fächerübergreifendes Projekt zum Thema Role Models in Literatur und Kunst statt. Deine Projektgruppe beschäftigt sich mit der Figur der Marie in Büchners Woyzeck.
  • Verfasse für das Begleitheft des Projekts einen Kommentar zu der Frage, ob bzw. inwiefern Marie als Rollenvorbild für emanzipierte Frauen geeignet ist.
  • Nutze dazu die folgenden Materialien (1-7) und beziehe im Unterricht erworbenes Wissen ein. Wähle eine geeignete Überschrift.
  • Zitate aus den Materialien werden dem Stil eines Kommentars entsprechend ohne Zeilenangabe, nur unter Nennung der Autorinnen und Autoren und ggf. des Titels aufgeführt.
  • Dein Beitrag sollte etwa 1000 Wörter umfassen.
Material 1
Role Model (2022)
Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik
1
Rollenmodell bezieht sich auf eine Person, real oder fiktiv, die ihre Rolle als gutes oder
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schlechtes Beispiel für andere ausfüllt. Ein gutes Beispiel ist ein positives Rollenmodell, ein
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schlechtes Beispiel ist ein negatives Rollenmodell. Ein positives Rollenmodell übt eine Rolle
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aus, indem es Werte, Denk- und Handlungsweisen vorlebt, die in dieser Rolle als positiv
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angesehen werden, sodass andere hoffentlich dem Beispiel folgen sollten. Eine Professorin
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an einer Universität kann in diesem Sinn als Vorbild für andere Frauen gesehen werden, da
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sie das Profil von Frauen in der Wissenschaft fördert. Alternativ kann sie aufgrund ihrer
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akademischen Leistungen bzw. ihres Engagements in ihrem gewählten Fachgebiet als Vorbild
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für angehende Akademiker, unabhängig von ihrem Geschlecht, gesehen werden.

Aus: Role Model. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik; (Zugriff: 12.03.2022)
Material 2
Das zweifelhafte Ideal der Geistlosigkeit (2013)
Jan-Christoph Hauschild
1
Was sagt es eigentlich über Georg Büchner aus, dass die Frauenfiguren in seinen Werken
2
sinnlich, aber nicht besonders klug sind. Und warum sind sie beim Publikum trotzdem so
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beliebt? [...]
4
Ein „arm Weibsbild“, aber keine Analphabetin
5
Auch die weibliche Hauptfigur, nun Louise genannt, wird weiterentwickelt. Sie ist vermutlich
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um die zwanzig Jahre alt, hat von Franz ein nichteheliches Kind und lebt in kümmerlichen
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Verhältnissen. Selbstbewusst ist diese Louise, nicht auf den Mund gefallen und dem Leben
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zugewandt. Empfänglich für Schönheit ist sie obendrein und lebhaft an Abwechslung
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interessiert. Als Soldaten mit klingendem Spiel an ihrer Wohnung vorbeimarschieren, schaut
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sie dem Spektakel zusammen mit ihrem kleinen Sohn vom Fenster aus zu. In der
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Bewunderung des schmucken Tambourmajor ist sie sich mit ihrer Nachbarin einig.
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In Franz Woyzeck hat Louise einen Quasi-Ehemann, der allerdings seltsames Zeug von sich
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gibt, womit er ihr Angst macht. Immerhin weiß Franz, was er Louise schuldig ist und verspricht
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ihr für den Abend einen Gang über den Jahrmarkt. Bei diesem Spaziergang wird Louise vom
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Tambourmajor und seinem Kameraden, einem Unteroffizier, heimlich beobachtet. Nicht
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Louises eigenes Reden und Handeln ist es, wodurch sie sich als Sexualobjekt profiliert,
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sondern das Gerede der Männer über sie. Sie bewundern die Haltung ihres Kopfes, ihr
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schwarzes Haar und ihren unergründlichen Blick, während ihre eigentlichen
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Geschlechtsmerkmale ausgespart bleiben; das scheint sich von selbst zu verstehen. Von
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„Fortpflanzen“ und „Zucht“ ist die Rede, Marie wird einem Reproduktionstier gleichgesetzt.
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Offenbar kommt es zu einer intimen Begegnung zwischen beiden, denn in der übernächsten
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Szene macht der Hauptmann Woyzeck gegenüber bereits Andeutungen über Louises
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garnisonsbekanntes Verhältnis zum Tambourmajor. Als Franz Louise daraufhin zur Rede
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stellt, lässt sie sich zu keinem Geständnis provozieren, hält ihm im Gegenzug seine
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Verrücktheit vor, woraufhin er in seiner Erregung „auf sie los“ geht. Louise hält ihm
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unerschrocken stand; Franz gibt klein bei, klammert sich an den Glauben an ihre Unschuld.
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Die letzte notierte Szene zeigt Louise als reuige Sünderin, „allein“ beim „Gebet“.

Anmerkung: In den ersten Handschriften zum Woyzeck nennt Büchner Marie noch Louise.
Jan-Christoph Hauschild (* 1955) ist Literaturwissenschaftler und Publizist.
Aus: Hauschild, Jan-Christoph: Das zweifelhafte Ideal der Geistlosigkeit; (2013) (Zugriff: 18.01.2022)
Material 3
Woyzeck (1836/37)
Georg Büchner
4. Szene (H4,4)
Marie sitzt, ihr Kind auf dem Schoß, ein Stückchen Spiegel in der Hand.
1
Marie (bespiegelt sich.) Was die Steine glänze! Was sind's für? Was hat er gesagt? – Schlaf
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Bub! Drück die Auge zu, fest! (das Kind versteckt die Augen hinter den Händen), noch
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fester, bleib so, still oder er holt dich. (Singt.)
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Mädel, mach's Ladel zu
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's kommt e Zigeunerbu,
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Führt dich an deiner Hand
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Fort ins Zigeunerland.
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(Spiegelt sich wieder.) 's ist gewiss Gold! Unsereins hat nur ein Eckchen in der Welt und
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ein Stück Spiegel und doch hab ich ein' so roten Mund als die großen Madamen mit
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ihren Spiegeln von oben bis unten und ihren schönen Herrn, die ihnen die Händ'
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küssen; Ich bin nur ein arm Weibsbild. – (Das Kind richtet sich auf.) Still Bub, die Auge
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zu! Das Schlafengelchen! wie's an der Wand läuft (Sie blinkt ihm mit dem Glas) Die
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Auge zu, oder es sieht dir hinein, dass du blind wirst.
14
(Woyzeck tritt herein, hinter sie. Sie fährt auf mit den Händen nach den Ohren.)
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Woyzeck: Was hast du?
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Marie: Nix.
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Woyzeck: Unter deinen Fingern glänzt's ja.
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Marie: Ein Ohrringlein; hab's gefunden.
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Woyzeck: Ich hab' so noch nix gefunden, zwei auf einmal.
20
Marie: Bin ich ein Mensch?
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Woyzeck: 's ist gut, Marie. – Was der Bub schläft. Greif ́ ihm unters Ärmchen der Stuhl
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drückt ihn. Die hellen Tropfen steh ́n ihm auf der Stirn; alles Arbeit unter der Sonn,
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sogar Schweiß im Schlaf. Wir arme Leut! Das is wieder Geld Marie; die Löhnung und
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was von mein ́m Hauptmann.
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Marie: Gott vergelt's Franz.
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Woyzeck: Ich muss fort. Heut abend, Marie. Adies.
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Marie (allein, nach einer Pause): Ich bin doch ein schlecht Mensch. Ich könnt' mich
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erstechen. – Ach! Was Welt? Geht doch alles zum Teufel, Mann und Weib.

Aus: Büchner, Georg: Woyzeck. Stuttgart 2005, S. 14 f.
Material 4
Woyzeck (2020)
Andreas Eikenroth
deutsch abi bb 23 lk woyzeck karikatur
Andreas Eikenroth (* 1966) ist Comiczeichner und Illustrator.
Aus: Eikenroth, Andreas: Woyzeck. Wuppertal 2020, S. 20.
Material 5
Marie (2013)
Ruth Drexel
1
Weibliche Sexualität ist auf der Bühne noch so tabuisiert, daß man völlig entgeistert angeguckt
2
wird, wenn man konkret davon ausgeht, daß sie eine natürliche Triebfeder ist, auch von
3
Frauen. Das kurz vor dem Jahre 2000! Da waren die Klassiker doch schon genauer. Zum
4
Beispiel in Büchners „Woyzeck“; da gibt es diese Szene zwischen Marie und dem
5
Tambourmajor. [...] Also sie läßt ihn da vor sich paradieren, er muß sich als Objekt ausstellen,
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wird taxiert, mit diesem Blick, wie er üblicherweise dem Mann auf die Frau zugestanden wird.
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Sie will ihn. Und nun fängt er dummerweise zu reden an. [...] Sie findet das total blöd, wie er
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sich spreizt, sagt spöttisch: „Ach was!“ Taxiert ihn noch mal und sagt: „Mann!“
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Und er redet weiter: „Und du bist auch ein Weibsbild! Sapperment, wir wollen eine Zucht von
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Tambourmajors anlegen. He?“ Und da entzieht sie sich, macht aber zuletzt das Zugeständnis:
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„Meinetwegen! Es ist alles eins!“ In diesem Text findet man ein ganz anderes Bild von
12
weiblichem Begehren, von weiblicher Sexualität, als es sogar die moderne Vorstellung zuläßt.

Ruth Drexel (1930-2009) war Schauspielerin und Regisseurin. Sie inszenierte als erste Frau am Bayrischen Staatsschauspiel.
Aus: Drexel, Ruth: Marie. In: Hauschild, Jan-Christoph: Georg Büchners Frauen. München 2013, S. 231 f.
Material 6
Georg Büchner: „Woyzeck“ (1980)
Albert Maier
1
Wie Woyzeck ist Marie in sich eine gebrochene Figur. Sie vertritt keineswegs die rein sinnliche
2
Kreatürlichkeit, die sich souverän über sittliche Schranken hinwegsetzen würde; nur ihre Armut
3
zwingt sie zu prostitutionsähnlichen Handlungen, die sie vor sich selbst nicht verantworten
4
kann: der körperlich und sozial besser gestellte Tambour-Major muß ihr Woyzeck ersetzen,
5
den seine Arbeitssituation gebrechlich gemacht hat. Schließlich beruht die Faszinationskraft
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des Tambour-Majors nicht allein auf seinen erotischen Qualitäten, sondern vor allem auf seiner
7
imposanten Äußerlichkeit, die mit Maries und Woyzecks Armseligkeit verlockend kontrastiert:
8
Uniform, Repräsentieren bei Paraden, Geschenke, staatlich bestätigte Körperkraft. – Trotz
9
dieser inneren Gebrochenheit, die Marie vor den anderen eindimensionalen Figuren im Stück
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auszeichnet, zieht sie wie Woyzeck keine Konsequenzen: was eine notwendige Folge der
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sozialen Verhältnisse ist, wird von ihr nur als persönliche Amoralität betrachtet – sie selbst hält
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sich für schuldig. Weil sie keine Möglichkeit hat, sich zu wehren, muß sie alles geschehen
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lassen und gleichgültig werden. Die für Marie unkontrollierbaren Umstände sind übermächtig:
14
„Ach! Was Welt? Geht doch Alles zum Teufel, Mann und Weib.“

Albert Meier (* 1952) ist Literaturwissenschaftler und Philologe. Er verfasste seine Promotion zu Georg Büchner.
Aus: Meier, Albert: Georg Büchner: „Woyzeck“. München 1980, S. 39.
Material 7
Georg Büchner (1994)
Henri Poschmann
1
Es ist für Marie ebensowenig wie für Woyzeck ein Moralkonflikt, der sie bedrängt. Das Stück
2
so zu lesen hieße, seine materialistisch konstituierte Dramaturgie zu verkennen oder zu
3
entstellen. Nicht um den Widerspruch von Individuen gegen ein ehernes Moralgesetz handelt
4
es sich hier, sondern um die Kollision ihres naturgegebenen Rechtsanspruchs zu leben, und
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zwar als sie selbst und für sich selbst, mit den entfremdenden und zerstörerischen
6
gesellschaftlichen Zwängen, die die Menschen gegeneinander und damit jeden auch gegen
7
sich selbst treiben [...].

Henri Poschmann (* 1932 - † 2022) war Literaturwissenschaftler, Germanist und Philologe. Schwerpunkt seiner Arbeiten war die deutsche Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts. Insbesondere beschäftigte er sich mit Georg Büchner.
Aus: Poschmann, Henri: Georg Büchner. In: Pörnbacher, Karl et alii: Georg Büchner: Werke und Briefe. München 1994, S. 596 f.

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