Aufgabenstellung C
Materialgestütztes Verfassen argumentierender Texte
Thema: Georg Büchner: Woyzeck Aufgabenstellung:- Unter der konkreten Fragestellung: Macht Bildung uns zu besseren Menschen? findet an deiner Schule ein fächerübergreifendes Projekt zum Thema Notwendigkeit von Bildung statt. Die Deutschkurse sind aufgefordert, sich mit dem Thema anhand von Beispielen aus der Literatur auseinanderzusetzen.
- Verfasse einen Kommentar zu der Frage, ob bzw. inwiefern die Figur Woyzeck aus Büchners gleichnamigem Drama zu mündigem Denken und Handeln in der Lage ist.
- Nutze dazu die folgenden Materialien (1-7) und beziehe eigene Erfahrungen sowie im Unterricht erworbenes Wissen ein.
- Wähle eine geeignete Überschrift.
- Bezüge auf die Materialien werden ohne Zeilenangabe, nur unter Nennung der Autorinnen und Autoren und ggf. des Titels verwendet.
- Dein Beitrag sollte etwa 1000 Wörter umfassen.
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Seit dem Zeitalter der Aufklärung kreist das als klassisch zu bezeichnende Verständnis von
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Bildung um die Begriffe Autonomie, Emanzipation und Mündigkeit. Der ideelle Kern der
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Aufklärungsepoche, die Idee des vernunftbegabten Individuums, kommt programmatisch in
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der legendären Definition von Aufklärung zum Ausdruck, wie sie der vielleicht bedeutendste
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aller Aufklärer, Immanuel Kant (1724-1804), zum Ausdruck brachte: „Aufklärung ist der
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Ausgang der Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das
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Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.
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Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des
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Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines
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anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“
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Aufklärung lässt sich in diesem Sinne als eine Geistesrichtung beschreiben, die das Vertrauen
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in die menschliche Vernunft als die entscheidende Quelle aller Erkenntnis, als Richtschnur
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menschlichen Handelns und als Maßstab aller Werte ansieht. Der hohe Stellenwert von
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Bildung ist deshalb auch ein zentrales Charakteristikum der Aufklärungsepoche. Bildung im
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Geiste der Aufklärung kann als Selbstermächtigung, als intellektuelle Ausstattung und
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Befähigung des Menschen zur selbständigen und vernünftigen Führung seines Lebens
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verstanden werden. Bildung ist also auf das allerengste mit dem Bemühen um die
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Emanzipation des Individuums verknüpft: „Der gebildete Mensch ist ein emanzipierter Mensch,
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der sich als Akteur seiner Geschichte versteht und nicht hilflos dem Gang der Dinge
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ausgeliefert ist“. Folglich stellt Bildung auch ein Instrument der Selbstbefreiung
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unterprivilegierter und unterdrückter Menschen dar.
Anmerkungen zum Autor:
Bernd Lederer (geb. o. A.) ist Privatdozent für Erziehungswissenschaft an der Universität Innsbruck. Aus: Lederer, Bernd: Was bedeutet eigentlich „Bildung“? Mündiger Mensch oder nützlicher Idiot? S. 20 (2015) (Zugriff: 01.10.2023) Material 2 Aufbegehren der Natur (1993) Martina Kitzbichler
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[Büchner] relativiert entscheidende Grundlagen des zeitgenössischen psychiatrischen
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Diskurses: Die Urteilskriterien der Gutachten basieren auf der perfekten Verinnerlichung der
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Gewissens- und Vernunftgebote und setzen dabei explizit ein Bewußtsein, eine Persönlichkeit,
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eine Ichheit voraus, kraft deren der Mensch „eigentlich Mensch und nicht Thier ist, und in
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welcher der Impuls zu allem seinem Denken und Handeln, zu seiner Selbstbestimmung liegt“.
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[...] Über eine derartige Autonomie der Ich-Identität verfügt Büchners Woyzeck ebenso wenig
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wie über eine (die tradierten Verhaltensnormen und situationsspezifischen Anforderungen
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vermittelnde) bürgerliche Sozialisation, die ihm zu einer Verinnerlichung der Inhalte der
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bürgerlichen Moral verholfen hätte. [...] Mit den Repräsentanten der herrschenden Klasse kann
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sich Woyzeck trotz aller Konformitätsanstrengungen nicht identifizieren.
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WOYZECK: Sehn Sie Herr Doctor, manchmal hat einer so nen Character, so ne
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Structur. – Aber mit der Natur ist’s was anders, sehn Sie mit der Natur (...) das ist so
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was, wie soll ich doch sagen, zum Beispiel ...
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DOCTOR: ... Woyzeck, Er philosophirt wieder.
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Bereits die Unfähigkeit, auf einem gemeinsamen Sprachniveau (Kulturniveau) mit dem Doktor
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zu kommunizieren, macht deutlich, daß der Proletarier nicht durch soziale Vorbilder erreicht
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wird. Gleichzeitig suggeriert die Sprachunfähigkeit die „Tierhaftigkeit“ Woyzecks. Damit holt
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Büchner erneut zum Schlag gegen die cartesianische Philosophie aus, für die die „Thiere
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nichts als seelenlose Maschinen, Automaten“ sind. Der Hauptgrund, warum sich ihnen eine
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Seele absprechen lasse, so resümiert er an anderer Stelle die Haltung des Cartesius, „liegt in
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dem Mangel der Sprache. Die Thiere würden Zeichen für ihre Gedanken finden und sie
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verbinden, wenn sie eine Seele hätten.“ Büchner akzentuiert hingegen die Tatsache, daß sich
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dem zum „Tier“ degradierten Subjekt Woyzeck keineswegs eine Seele absprechen läßt, daß
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„Natur“ vielmehr aufbegehrt gegen die Repressionsansprüche der Kultur.
Anmerkungen zum Autor:
Martina Kitzbichler (geb. o. A.) ist Germanistin und promovierte an der Leibniz Universität Hannover. Aus: Kitzbichler, Martina: Aufbegehren der Natur. Opladen 1993, S. 143 f. Material 3 Büchners Bild vom Menschen (1967) Ludwig Büttner
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Neben Armut und mangelnder gesellschaftsfähiger Moral kennzeichnet Woyzeck ein
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sonderbares Wesen. Er wirkt hastig, nervlich erregt und überreizt, fiebrig. Er spricht
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abgerissen, gepreßt, okkult und hellseherisch. Eine Art magische Welt umgibt ihn mit
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geheimnisvollen Zeichen, Zukunftsdeutung, Unheildrohung, Eingreifen übersinnlicher Mächte.
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Er lebt gleichsam in einer mythisch-mystischen Welt voll Zauber, Geister und geheimer
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Erscheinungen zwischen Himmel und Erde. Woyzeck ist aber nicht närrisch. Marie und der
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Hauptmann nehmen wohl an, daß er eines Tages noch verrückt werden könne, und Andres
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hält ihn für seltsam und hitzig. Doch ist da kein Hinweis, als ob Woyzeck nicht wisse, was er
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tue, und irre sei. Vielmehr weiß er sehr genau, was er tut und was Recht und Unrecht, Gut und
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Böse ist. Er besitzt Urteil und Kritik, auch Selbstkritik. Sein Denken ist klar und vernünftig,
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sogar scharfsinnig. Er grübelt über das Leben und die Welt nach. Da bleibt ihm manches
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rätselhaft und dunkel. Dieses Unverständliche, Geheimnisvolle kann er nur wieder mysteriös,
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wunderlich und verwirrt aussprechen. Aber er ist kein Narr und Idiot. [...] Woyzeck macht auch
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eine Menge auffallend kluger Bemerkungen, kritisch und tiefsinnig. Er ist nicht dumpf, dumm
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oder blöd, nur fehlen ihm Studium und Bildung, um seine Überlegungen und Einsichten klar
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und folgerichtig auszudrücken. Nicht mit Unrecht könnte man ihn sogar gescheit und weise
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nennen. Er besitzt lebendige Vorstellungskraft und Urteilsfähigkeit, Schlagfertigkeit und
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Tiefgründigkeit.
Anmerkungen zum Autor:
Ludwig Büttner (* 1909 - † 1984) war Studienrat. Er veröffentlichte mehrere literaturwissenschaftliche Fachbeiträge zu Georg Büchner. Aus: Büttner, Ludwig: Büchners Bild vom Menschen. Nürnberg 1967, S. 53 f. Material 4 Gespräch im Deutschlandfunk (2019) Andreas Eikenroth „Woyzeck ist der Einzige, der noch Herz und Gefühl hat“
Anmerkungen zum Autor:
Andreas Eikenroth (* 1966) ist Illustrator und Bühnentechniker. Er entwarf und zeichnete eine Graphic Novel zu Woyzeck. Aus: Eikenroth, Andreas: Gespräch im Deutschlandfunk (2019) (Zugriff: 26.03.2023) Material 5 Franz Woyzeck oder die Selbstentfremdung (1962) Hans Mayer
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Ergreifend und unheimlich folgerichtig ist gestaltet, wie gerade die soziale Gebundenheit den
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Woyzeck immer tiefer geistig verstrickt und isoliert. Der Gegensatz seiner „unmoralischen“
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Lebensweise zu den geltenden Moralanschauungen treibt ihn in ausweglose Grübelei. Überall
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stößt er auf Moral- und Tugendlehren, die ihm nichts sagen können. Der Doktor predigt die
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Moral der Willensfreiheit: „Woyzeck, der Mensch ist frei, in dem Menschen verklärt sich die
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Individualität zur Freiheit.“ Woyzeck aber weiß nur von der „Natur“, die ihn triebhaft handeln
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und reagieren lässt. Wie soll er sich diesen ständigen Widerspruch erklären: überall stößt er
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auf Predigten der Moral, der Vernunft, der Willensfreiheit, ist selbst jedoch nichts als Trieb, als
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Leben nach Gesetzen, die er nicht kennt und die ihn doch bestimmen, „unideale Natur“, wie
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es der Jahrmarktsausrufer nennt.
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Überall durchzieht dieser Gegensatz das Werk; Büchner wird nicht müde der bitteren
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Anmerkungen über Leere und Hohlheit jener „lächerlichen Äußerlichkeit, die man Bildung,
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oder eines toten Krams, den man Gelehrsamkeit heißt“. Welchen Sinn hätte jener Entwurf der
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Marktschreierszene, die Präsentierung des gelehrten Pferdes, die nur lose mit der Handlung
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verknüpft ist, wenn nicht den, Professorenphilosophie und Gelehrsamkeitsdünkel mit erneuter
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Bitterkeit zu verspotten. Woyzeck weiß nur von seiner „Natur“, möchte aber hinter das
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Geheimnis jenes Dualismus kommen, der die Besitzenden und Gebildeten mit ihrer Moral,
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Tugend und Bildung so scharf gegen ihn abhebt.
Anmerkungen zum Autor:
Hans Mayer (* 1907 - † 2001) war Literaturwissenschaftler, Kritiker und Schriftsteller. Zudem war Mayer Jurist und Sozialforscher. Aus: Mayer, Hans: Franz Woyzeck oder die Selbstentfremdung. In: Ders., Georg Büchner, Woyzeck. Dichtung und Wirklichkeit. Frankfurt/Main 1962, S. 65 f. Material 6 Illustration Woyzeck – Freies Feld – Georg Büchner (2020) Peter Kempkes

Anmerkungen zum Autor:
Peter Kempkes (* 1964) ist Schauspieler und Synchronsprecher. Zudem ist er Produzent und künstlerischer Leiter der Hör- und Sprechplattformen für deutschsprachige Literatur sprechbude.de und literaturbude.de. Aus: Kempkes, Peter: Illustration Woyzeck – Freies Feld – Georg Büchner (2020) (Zugriff: 14.02.2023) Material 7 Woyzeck, Szene Beim Hauptmann (1836/37) Georg Büchner Beim Hauptmann
Hauptmann auf einem Stuhl, Woyzeck rasiert ihn.
[...]
1
HAUPTMANN. Ha! ha! ha! Süd-Nord! Ha! ha! ha! Oh, Er ist dumm, ganz abscheulich dumm –
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(Gerührt) Woyzeck, Er ist ein guter Mensch – aber (mit Würde) Woyzeck, Er hat keine Moral!
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Moral, das ist, wenn man moralisch ist, versteht Er. Es ist ein gutes Wort. Er hat ein Kind ohne
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den Segen der Kirche, wie unser hochehrwürdiger Herr Garnisonsprediger sagt – ohne den
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Segen der Kirche, es ist nicht von mir.
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WOYZECK. Herr Hauptmann, der liebe Gott wird den armen Wurm nicht drum ansehen, ob
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das Amen drüber gesagt ist, eh er gemacht wurde. Der Herr sprach: Lasset die Kleinen zu mir
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kommen!
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HAUPTMANN. Was sagt Er da? Was ist das für eine kuriose Antwort? Er macht mich ganz
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konfus mit seiner Antwort. Wenn ich sag: Er, so mein ich Ihn, Ihn –
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WOYZECK. Wir arme Leut ... Sehn Sie, Herr Hauptmann: Geld, Geld! Wer kein Geld hat ...
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Da setz einmal eines seinesgleichen auf die Moral in die Welt! Man hat auch sein Fleisch und
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Blut. Unsereins ist doch einmal unselig in der und der andern Welt. Ich glaub, wenn wir in
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Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen.
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HAUPTMANN. Woyzeck, Er hat keine Tugend! Er ist kein tugendhafter Mensch! Fleisch und
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Blut? Wenn ich am Fenster lieg, wenn's geregnet hat, und den weißen Strümpfen so nachseh,
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wie sie über die Gassen springen – verdammt, Woyzeck, da kommt mir die Liebe! Ich hab
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auch Fleisch und Blut. Aber Woyzeck, die Tugend! Die Tugend! Wie sollte ich dann die Zeit
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herumbringen? Ich sag mir immer: du bist ein tugendhafter Mensch, (gerührt) ein guter
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Mensch, ein guter Mensch.
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WOYZECK. Ja, Herr Hauptmann, die Tugend – ich hab's noch nit so aus. Sehn Sie – wir
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gemeine Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur; aber wenn ich ein
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Herr wär und hätt ein' Hut und eine Uhr und eine Anglaise und könnt vornehm reden, ich wollt
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schon tugendhaft sein. Es muss was Schönes sein um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich
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bin ein armer Kerl.
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HAUPTMANN. Gut, Woyzeck. Du bist ein guter Mensch, ein guter Mensch. Aber du denkst zu
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viel, das zehrt; du siehst immer so verhetzt aus. – Der Diskurs hat mich ganz angegriffen. Geh
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jetzt, und renn nicht so; langsam, hübsch langsam die Straße hinunter!
Aus: Büchner, Georg: Woyzeck, Leonce und Lena. Hamburger Leseheft, Husum o. J., S. 5 f.
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Überschrift
- Die Rolle der Bildung im Drama Woyzeck - Ist die Figur Woyzeck zu mündigem Denken und Handeln in der Lage?
Einleitung
- Georg Büchners Drama Woyzeck aus dem Jahr 1836 ist ein vielschichtiges Werk, das die gesellschaftlichen und individuellen Abgründe des Vormärz eindrucksvoll thematisiert.
- Die Titelfigur Franz Woyzeck steht im Mittelpunkt der Geschichte. Als Soldat lebt er mit seiner Frau Marie und dem gemeinsamen Sohn in prekären Verhältnissen. Woyzeck ist Teil einer Gesellschaft, die ihn auf vielfache Weise bedrängt und ausbeutet. Das Stück beleuchtet Themen wie Armut, soziale Ausgrenzung und Eifersucht. Es bietet einen Einblick in die Ungerechtigkeiten der Gesellschaft zu dieser Zeit und zeigt die psychische Belastung und Zerrüttung, die aus solchen Verhältnissen resultieren können.
- Im Rahmen des Projekts zur „Notwendigkeit von Bildung“ möchte ich untersuchen, inwiefern die Figur Woyzeck zu mündigem Denken und Handeln fähig ist und welche Rolle Bildung dabei spielt.
Hauptteil
Die Figur Woyzeck ist zu mündigem Denken und Handeln in der Lage- Reflexionsfähigkeit: Trotz seiner offensichtlichen Unbildung zeigt Woyzeck Momente von Reflexion und Bewusstsein, die andeuten, dass er ein Potenzial zur Mündigkeit besitzt. Seine Monologe im Drama sind oft von tiefer Verzweiflung und existenziellen Fragen geprägt. Dies zeigt, dass Woyzeck sich seiner Situation bewusst ist und versucht, sie zu verstehen, auch wenn ihm die Mittel zur vollständigen intellektuellen Durchdringung fehlen. Trotz seiner psychischen Einschränkungen ist er in der Lage sich seines eigenen Verstandes zu bedienen (M1). Er erkennt die Ungerechtigkeit, die ihm widerfährt, was sich in seinen Gesprächen und Argumentationen mit dem Hauptmann und dem Doktor zeigt (M5; „Sehn Sie – wir gemeine Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur; aber wenn ich ein Herr wär und hätt ein' Hut und eine Uhr und eine Anglaise und könnt vornehm reden, ich wollt' schon tugendhaft sein. Es muss was Schönes sein um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl!“, M7). Diese Fähigkeit zur Reflexion und Argumentation ist ein Grundbaustein für mündiges Handeln.
- Woyzeck scheint sich seiner eigenen Position in der Gesellschaft bewusst zu sein und reflektiert darüber, wie dies seine moralischen Entscheidungen beeinflussen könnte. Er erkennt seine eigenen Beschränkungen als „armer Kerl“ (M7).
- Urteilsfähigkeit: Woyzeck besitzt eine lebendige Vorstellungskraft und Urteilsfähigkeit, Schlagfertigkeit und Tiefgründigkeit. Diese Fähigkeiten deuten darauf hin, dass er in der Lage ist, schnell und adäquat auf verschiedene Situationen zu reagieren und tiefgründige Überlegungen anzustellen (M3). Er scheint in der Lage zu sein, komplexe Gedanken zu formulieren und zu kommunizieren. Er versteht die Worte des Hauptmanns und reagiert darauf. Seine Antwort zeigt außerdem eine gewisse kognitive Flexibilität und Schlagfertigkeit („Wir arme Leut ... Sehn Sie, Herr Hauptmann: Geld, Geld!“, M7). Auch seine Kritikfähigkeit („Sapere aude!“, M1; „Ich glaub, wenn wir in Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen“, M7) lässt darauf schließen, dass Woyzeck zu mündigem Handeln und Denken in der Lage ist. Obwohl Woyzeck Schwierigkeiten hat, auf dem gleichen Sprachniveau wie der Doktor zu kommunizieren, zeigt die Bemerkung, dass er philosophiert, dass er sich Gedanken über seine Existenz und seine Situation macht (M2).
- Trotz der Herabsetzung Woyzecks zum „Tier“ durch die Gesellschaft und deren Repräsentanten, wie dem Doktor, bleibt die Tatsache bestehen, dass Woyzeck eine Seele besitzt. Büchner betont, dass auch diejenigen, die als Tiere degradiert werden, nicht seelenlos sind. Dies widerspricht der cartesianischen Philosophie und suggeriert, dass Woyzeck durchaus zu eigenständigem Denken und Verhalten fähig ist, auch wenn seine Ausdrucksweise und sein soziales Umfeld dies einschränken (M2).
- Rationalität: Woyzeck versucht, seine unmoralische Tat gezielt zu vertuschen. In der Szene „Das Wirtshaus“ versucht er sich, normal zu verhalten und keinen Verdacht zu erregen. „Am Teich“ versucht Woyzeck, Spuren zu verwischen und Hinweise auf seine Tat zu beseitigen. In der Szene „Kaserne“ ordnet und verteilt Woyzeck seinen Nachlass. Diese Beispiele zeigen, dass Woyzeck, trotz seines emotionalen und gesellschaftlichen Drucks, zu rationalem Denken und strategischem Handeln fähig ist. Seine Handlungen sind durchdacht und zeigen ein gewisses Maß an Überlegung und Planung, was darauf hinweist, dass er in der Lage ist, gezielte und logische Entscheidungen zu treffen.
- Moralbewusstsein: Ebenfalls weiß Woyzeck genau, was er tut und was Recht und Unrecht ist. Dies zeigt, dass er ein moralisches Bewusstsein besitzt und fähig ist, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden (M3). Woyzeck äußert moralische Vorstellungen, wenn auch auf eine etwas naiv wirkende Weise. Er argumentiert, dass das Fehlen eines kirchlichen Segens für sein Kind nicht bedeutet, dass es von Gott nicht akzeptiert wird. Dies zeigt ein gewisses moralisches Bewusstsein, obwohl seine Ansichten nicht unbedingt konventionell sind (M7). Außerdem reflektiert er über die Bedeutung von Tugend und Moral und wie sie mit sozialen Klassen und Privilegien verbunden sind. Er erkennt an, dass die Tugend für jemanden wie ihn, der arm ist, vielleicht schwerer zu erreichen ist als für jemanden mit mehr Mitteln (M7).
- Menschlichkeit und Nächstenliebe: Das Bibelzitat „Lasset die Kleinen zu mir kommen“ (M7) lässt auf Woyzecks religiöse Grundbildung schließen. Seine mitfühlende Natur lässt sich ebenfalls an unterschiedlichen Stellen im Werk beweisen. Mehrfach zeigt er seine Sorge um Marie und ihr gemeinsames Kind. Ein besonders deutliches Beispiel dafür findet sich in der Szene „Mariens Kammer“, wo er sagt: „Greif ihm unters Ärmchen, der Stuhl drückt ihn.“ Diese Szene illustriert Woyzecks liebevolle und fürsorgliche Haltung gegenüber seinem Kind. Darüber hinaus zeigt Woyzeck in anderen Teilen des Dramas immer wieder seine Sorge um seine Frau, etwa durch seine Bemühungen, Geld zu verdienen und für sie zu sorgen, trotz der belastenden und ausbeuterischen Arbeitsbedingungen, denen er ausgesetzt ist. Dies zeigt sich in seiner Arbeit als Soldat (Vgl. Szene „Kasernenhof“), als medizinischer Proband (Vgl. Szene „Beim Doktor“) und als Gehilfe des Hauptmanns (Vgl. Szene „Beim Hauptmann“).
- Wenn Woyzeck, laut Andreas Eikenroth, als einziger noch Herz und Gefühl hat, zeigt das, dass er in der Lage ist, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und ihre Gefühle zu verstehen. Das könnte darauf hindeuten, dass er fähig ist, mündig zu handeln, indem er die Konsequenzen seines Handelns für sich und andere reflektiert (M4).
- Widerstand: Büchner zeigt in seinem Werk auf, dass die „Natur“ in Woyzeck gegen die kulturellen Repressionsansprüche. Dieses Aufbegehren kann als Ausdruck von Individualität und eigenem Willen interpretiert werden, was darauf hinweist, dass Woyzeck zumindest teilweise zu mündigem Verhalten und Denken in der Lage ist (M2).
- Woyzecks Determiniertheit und fehlende Bildungsbiografie: Die Figur Woyzeck ist von Anfang an als eine Figur angelegt, die am Rande der Gesellschaft steht. Er ist Soldat, arm und ungebildet. Zur selbstständigen und vernünftigen Führung seines Lebens scheint er unfähig zu sein (M1). Seine intellektuellen Fähigkeiten sind stark eingeschränkt (M2, M3), was ihn in seiner Umwelt hilflos und manipulierbar macht. Er leidet unter der Fremdbestimmung seitens der ihm übergeordneten Figuren in seinem Umfeld wie dem Hauptmann (M7) und dem Doktor (M2, Vgl. auch „Woyzeck: Ich geh! Es ist viel möglich. Der Mensch! Es ist viel möglich“, Szene „Straße“). Der Hauptmann sieht in Woyzeck keine Fähigkeit zur Selbstreflexion oder ethischen Selbstbestimmung, was seine Unterdrückung und Ausbeutung durch die Gesellschaft legitimiert.
- Sprachliche Einschränkungen: Woyzecks zum Teil abgerissene Sprechweise macht es für die Leserschaft schwer, sein Denken nachzuvollziehen und zu interpretieren. Seine nervliche Instabilität sowie seine Neigung zur Verwirrung und Mystik beeinträchtigen eine klare Kommunikation sowie rationale Entscheidungsfindung und damit auch seine Fähigkeit zur vollständigen Mündigkeit (M3). Das zeigt sich auch daran, dass Woyzeck nicht fähig ist, auf einem gemeinsamen Sprachniveau mit dem Doktor zu kommunizieren (M2).
- Woyzecks fehlende bürgerliche Sozialisation: Einhergehend mit Woyzecks Bildungsferne bestimmt auch seine fehlende bürgerliche Sozialisation und mangelnde Identifikation mit der herrschenden Klasse sein Schicksal. Woyzeck kennt keine festen Normen und religiös begründete Moralvorstellungen, die in der bürgerlichen Gesellschaft als wichtig erachtet werden (M2, M3). Dies zeigt sich bspw. auch an seinen nur äußerst grundlegenden Bibelkenntnissen (M2, „die Tugend – ich hab's noch nit so aus“, M7)
- Krankheit: Woyzeck leidet unter starken psychischen Belastungen und möglicherweise unter Wahnvorstellungen, die seine Fähigkeit zu rationalem Denken und Handeln stark beeinträchtigen. Auch diese mentale Instabilität verhindert eine mögliche Auseinandersetzung mit der sozialen und politischen Realität und im Umkehrschluss ein mündiges Handeln (M6, Vgl. auch „Wie hell! [...] Ein Feuer fährt um den Himmel und ein Getös herunter wie Posaunen“, Szene „Freies Feld“, Szene „Die Stadt in der Ferne“, „Beim Doktor“)
- Woyzecks fehlende Vernunft: Woyzecks Handlungen, geprägt von impulsiven Eingebungen und insbesondere seiner Eifersucht und Enttäuschung, zeigen einen Mangel an Selbstbestimmung und Vernunft („ist selbst jedoch nichts als Trieb, als Leben nach Gesetzen, die er nicht kennt und die ihn doch bestimmen“, M5, Vgl. auch Szene „Beim Doktor“, „Stich, stich die Zickwolfin tot! – Soll ich? Muß ich? Hör‘ ich’s da auch?“, Szene „Freies Feld“).
- Woyzecks fehlende Rationalität: Woyzeck wird außerdem als jemand dargestellt, der zwar von Emotionen geleitet ist und oft Mitgefühl zeigt (M4, M6), aber dennoch nicht in der Lage ist, kulturelle Normen zu beachten oder rational zu handeln (M2). Er wird von anderen als unzuverlässig wahrgenommen, wie in der Szene „Mariens Kammer“, in der Marie feststellt, dass er sein eigenes Kind nicht einmal anschaut und stattdessen in seinen Gedanken gefangen ist („Marie: Der Mann! So vergeistert. Er hat sein Kind nicht angesehn. Er schnappt noch über mit den Gedanken“ Szene. „Mariens Kammer“).
- Zeithistorische Einordnung und sozialer Kontext: Der Vormärz, eine Zeit gesellschaftlicher Umbrüche und politischer Repression in Deutschland, bildet den Hintergrund von Büchners Drama. Die soziale Frage, die Not der unteren Schichten und die Forderung nach politischen Reformen waren zentrale Themen dieser Epoche. Büchner selbst war ein politischer Aktivist und Mitglied der „Gesellschaft der Menschenrechte“. Seine Werke, einschließlich Woyzeck, spiegeln seine radikalen Ansichten wider und kritisieren die sozialen Missstände dieser Zeit. Die Figur Woyzeck ist somit Opfer seiner Zeit und der gesellschaftlichen Umstände.
- Historizität: Büchners Woyzeck basiert auf einem historischen Fall, der den sozialen Hintergrund der Figur noch deutlicher macht. Der historische Johann Christian Woyzeck wurde 1821 wegen Mordes an seiner Geliebten hingerichtet. Büchner verwendet diesen Fall, um die Auswirkungen sozialer Missstände auf das Individuum zu untersuchen. Die sozialen Bedingungen, unter denen der historische Woyzeck lebte, spiegeln sich in der Figur des Dramas wider und verdeutlichen die Schwierigkeiten, denen Menschen ohne Zugang zu Bildung und sozialer Gerechtigkeit gegenüberstehen. Die Figur Woyzeck fungiert damit als ein mahnendes Beispiel Büchners für fehlende Willensfreiheit, gesellschaftliche Determiniertheit und unzureichende Bildung niederer Gesellschaftsschichten (M5).
- Kontrast zum aufklärerischen Mündigkeitsideal: Die Aufklärung betonte die Bedeutung von Bildung zur Erreichung von Mündigkeit, verstanden als die Fähigkeit, selbstständig zu denken und zu handeln. Kant definierte Mündigkeit als den „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“ (M1) Im Gegensatz dazu zeigt Woyzecks Leben, dass äußere Umstände, wie Armut und soziale Unterdrückung, eine bedeutende Rolle dabei spielen, ob ein Individuum mündig werden kann. Die Rahmenbedingungen, unter denen Woyzeck lebt, lassen also kaum Raum für Bildung im klassischen Sinne (M1, M5). Seine Handlungen sind oft Reaktionen auf äußere Zwänge und nicht Ausdruck eines autonomen Willens.
Schluss
- Einerseits kann man zustimmen, dass Woyzeck aufgrund seines zumeist durchdachten, zielgerichteten Verhaltens sowie seiner emotionalen und sprachlichen Fähigkeiten, zu mündigem Denken und Handeln in der Lage ist. Andererseits lassen sich auch Argumente finden, die dagegen sprechen, dass Woyzeck tatsächlich zu mündigem Denken und Handeln fähig ist. Dazu gehören unter anderem seine mangelnde (Sprach-)Bildung, der gesellschaftliche und emotionale Druck und die dadurch verhinderte Moralität, die ihn letztlich zu einem Mord treiben.
- Büchners Leserschaft muss dabei zwischen der Zuschreibung eines mündigen, nachvollziehbaren Handelns und eines fehlenden oder nicht erkennbaren Reflexionsvermögens, besonders bedingt durch Woyzecks Krankheit, abwägen.
- Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Figur Woyzeck eindrucksvoll zeigt, wie stark äußere Lebensumstände die Möglichkeit zur Mündigkeit einschränken können. Büchner verdeutlicht, dass soziale Gerechtigkeit und ökonomische Sicherheit grundlegende Voraussetzungen für echte Bildung und individuelle Freiheit sind. Weiterhin kann Bildung sicherlich dazu beitragen, Menschen zu mündigen Bürgern zu machen, aber sie muss von einer gerechten und unterstützenden sozialen Struktur begleitet werden. Nur dann kann das Potenzial der Bildung vollständig entfaltet werden und zu einer wirklichen Verbesserung des menschlichen Handelns und Denkens führen.