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Aufgabe 4

Analyse eines literarischen Textes mit weiterführendem Schreibauftrag

Thema:
Axel Hacke (* 1956): Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte (Auszug)
Aufgabenstellung:
  • Analysiere den Argumentationsgang des Textes. (ca. 30 %)
  • Setze dich auf der Grundlage deiner Analyseergebnisse kritisch mit der Autorenposition auseinander. (ca. 70 %)
Material
Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte (Auszug)
Axel Hacke
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Vielleicht sollte man an das mit Recht bis heute berühmte Buch Die Unfähigkeit zu trauern von
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Alexander und Margarete Mitscherlich erinnern. Es erschien 1967.
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Seine wichtigste These war, man habe sich in Deutschland nach der Nazi-Zeit nicht mit
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der Trauerarbeit und dem Durcharbeiten des Vergangenen beschäftigt, auch nicht mit dem
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jeweils eigenen Anteil an den Verbrechen. Stattdessen habe man all das beiseitegeschoben, zu
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vergessen versucht und sich „mit einem Bewunderung und Neid erweckenden
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Unternehmungsgeist auf die Wiederherstellung des Zerstörten, auf Ausbau und Modernisierung
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unseres industriellen Potentials bis zur Kücheneinrichtung hin konzentriert“.
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Die Folge: ein Denken, das sich auf Besitz und Konsum fixierte und die mit Trauer um das
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Vergangene, Verbrochene, Kaputte, Verschuldete notwendig verbundenen Emotionen nicht
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zuließ. Wenn es aber Trauer nicht gibt, dann kann es auch Heiterkeit in einem fundamentalen
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und umfassenden Sinn nicht geben, weil man letztlich das eine Gefühl nicht ohne das andere
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haben kann.
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So ist die Seele nun mal beschaffen.
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Wobei die Mitscherlichs notiert hatten, erst wenn inan sich von der Fixierung auf den
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Besitz, die Verbissenheit in ihn verabschiede, wenn man die Angst ablege, ihn zu verlieren,
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könne dies „in der Welt dazu beitragen, etwas mehr Heiterkeit aufkommen zu lassen". So
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gesehen war die Unfähigkeit zu trauern auch eine Unfähigkeit heiter zu sein.
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Und vielleicht könnte man sagen, dass es – ähnlich und doch anders –neben der
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Trauerarbeit auch eine Art von Heiterkeitsarbeit geben könnte, ein Sich-Erkämpfen einer
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bestimmten Sicht auf das Leben. Denn wie wir gesehen haben: Heiterkeit ist nicht leicht zu
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haben.
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Für manche Autoren ist dieses Sich-Erkämpfen nicht selten der wichtigste und einzige Weg
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zu einem zumindest partiell heiteren Dasein, weil es ihnen so gelingt, aus düsteren
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Lebensereignissen das Heitere zu destillieren und jenen Verwandlungsprozess in Gang zu
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setzen, an dessen Ende wir über die tragischsten Dinge lachen.
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Es geht mir darum, zu zeigen: Das eigene Leben muss man selbst gestalten. Und Heiterkeit
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ist im Leben keineswegs ein weiterer Auftrag, der ja alles wieder einschränken würde wie alle
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anderen Aufträge, die man so im Leben mitbekommt: Sei fleißig und leiste viel, versuch, immer
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der Beste zu sein, sei dies, mach jenes.
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Sei heiter!? Darum geht es gerade nicht, im Gegenteil. Es geht nicht um ein Muss, es geht
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um ein Könnte.
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Heiterkeit ist eine Möglichkeit. Die ist fast immer vorhanden.
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Sie basiert auf der Anerkennung aller anderen Gefühle. Es geht nicht um einen Zwang: Hör
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doch auf mit all dem Schwierigen, lach es weg! Das ist das Gegenteil von dem, was ich meine.
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Du möchtest nicht heiter sein? Kannst es nicht? Findest es doof? Bitte sehr, niemand
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verlangte es, woher denn? Dazu hat keiner ein Recht. Es ist dein Leben, führe es, wie du es für
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richtig hältst, wie du willst und kannst. Aber du solltest wissen, dass es nicht die einzige
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Möglichkeit ist, das Leben zu führen.
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Es geht immer anders.
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Robert Musli hat einem Kapitel seines großen Romans Der Mann ohne Eigenschaften die
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Überschrift gegeben: Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch Möglichkeitssinn geben.
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Und über den Möglichkeitssinn heißt es dann:
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Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird
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geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehn;
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und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun
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es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu
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als Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht
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wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.
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Ist es nicht sehr vernünftig, mit diesem Möglichkeitssinn an das eigene Leben heranzugehen?
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Denn wenn alles immer anders sein könnte, dann stellt sich manchmal die Frage, warum es
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aber nicht anders ist? Und daran muss sich eine weitere anschließen, nämlich die, ob ich es
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nicht schaffen könnte, dieses andere so in meinem Leben zu haben, wie ich es gern hätte.
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Michael Ende hat einmal notiert:
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Es gibt nur eine Wirklichkeit, aber sie ist wie ein Haus mit vielen Stockwerken, und je
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nachdem, in welchem man sich gerade befindet, hat man einen anderen Ausblick auf die
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Welt. Die Stockwerke, das sind unsere Vorstellungen, Gedanken und Gefühle. Zu anderen
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Zeiten oder bei anderen Völkern hatte man andere Vorstellungen, und deshalb bedeutete
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die Wirklichkeit dort etwas anderes. Ich beschreibe die Welt von verschiedenen
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Stockwerken aus.
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Vielleicht ist es sinnvoll, sich fürs eigene Leben zu merken: Man muss es immer wieder aus
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verschiedenen Stockwerken betrachten, vom Dach und vom Keller und manchmal nur aus dem
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Erdgeschoss. Es ist nicht sinnvoll, zu lange auf einer Etage zu verweilen. Manchmal lohnt ein
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kurzer Sprung nach oben, und dann und wann muss man das Haus mal ganz verlassen, um
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etwas anderes zu sehen.

Anmerkung zum Autor:
Axel Hacke ist Journalist und Schriftsteller.
Aus: Hacke, Axel: Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte. DuMont Buchverlag, Köln 2023, S. 183 - 187.

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