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Aufgabe 4

Interpretation eines literarischen Textes

Thema:
Max Frisch (* 1911 - † 1991): Der Graf von Öderland. Eine Moritat in zwölf Bildern. (1961)
Aufgabenstellung:
  • Interpretiere den Auszug aus dem dritten Bild des Dramas.
Material
Der Graf von Öderland. Eine Moritat in zwölf Bildern.
Max Frisch
Einem Staatsanwalt lässt der Fall eines Axtmörders keine Ruhe. Dessen Tat veranlasst ihn, sein eigenes Leben in Frage zu stellen und daraus auszubrechen. Sein Dienstmädchen Hilde zeigt Verständnis für ihn, verbrennt die Prozessakten und macht ihn mit der Legende des Grafen Öderland bekannt. Der Staatsanwalt zieht von nun an durchs Land und trifft eines Tages auf eine Köhlerfamilie.
Drittes Bild (Auszug)
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Hütte im Wald. Am Herd steht Inge, ein junges Mädchen mit hellem Haar. Die Mutter,
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ein altes Weib, stellt drei Teller auf den Tisch.
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INGE Die Suppe ist fertig. Wenn Vater nicht kommt, nachher ist alles wieder kalt.
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MUTTER Immer das gleiche Lied!
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INGE Nachher bin ich wieder schuld.
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MUTTER Jens! – Jens...
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Die Mutter geht hinaus, rufend.
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INGE So ist unser Leben
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Tag für Tag, und so
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würde es sein, bis ich alt bin
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und sterbe –
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Man hört den schimpfenden Vater draußen.
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So würde es sein
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Tag für Tag.
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Aber einmal, wenn ich
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die Hühner füttern soll
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wie immer und immer,
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wenn alles von vorne beginnt,
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und Vater hat schon den Schlitten geschirrt,
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ich soll ihm helfen im Wald
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wie immer und immer –
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einmal:
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Da steht er im Zimmer
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plötzlich
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der Graf von Öderland.
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Da steht er
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Und hat eine Axt in der Hand.
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Wehe!
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Wer uns die Wege verstellt,
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wehe,
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wehe euch allen,
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ich sehe euch fallen
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wie Bäume im Wald!
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Eintreten Mutter und Vater, ein alter Köhler, der eine Axt in der Hand hat. Er stellt sie
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neben die Türe an die Wand.
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Alle setzen sich.
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VATER Alles muß einer allein machen.
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MUTTER Komm, Herr Jesus Christ, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast,
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Amen.
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Inge schöpft die Suppe.
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VATER Was ist das für ein Kerl da draußen? Jetzt streicht er schon wieder ums Haus
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herum?
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MUTTER Wer?
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VATER Ich frag sie.
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INGE Mich?
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VATER Was das für ein Kerl ist?
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INGE Wie soll ich's wissen?
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VATER Mir streicht er nicht nach.
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INGE Ich hab niemand gesehen.
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VATER Salz ist auch nicht da!
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Inge erhebt sich und holt Salz.
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Gestern schon, stundenlang steht er droben im Wald, wo ich die Föhren schäle. Meint, ich
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seh ihn nicht, wie er da hinter den Stämmen steht und gafft. Ich lauf ihm nicht nach. Wenn
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er den Weg nicht weiß, kann er ja fragen.
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MUTTER Gestern schon?
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INGE Wo ist er denn die ganze Nacht gewesen?
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MUTTER Im Schnee?
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VATER Was geht das uns an ...
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Inge ißt nicht weiter.
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Wo glotzt sie wieder hin?
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MUTTER Laß sie.
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VATER Warum ißt sie ihre Suppe nicht?
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Die Eltern essen weiter.
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INGE So ist unser Leben
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Tag für Tag.
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Aber einmal
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da steht er im Zimmer
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plötzlich
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der Graf von Öderland,
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da steht er
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und hat eine Axt in der Hand,
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und wer uns die Wege verstellt,
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wehe,
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wehe euch allen,
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ich sehe euch fallen
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wie Bäume im Wald ...
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VATER Denkt sie wieder an ihren Graf.
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MUTTER Laß sie.
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VATER Tagein, tagaus.
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INGE Graf Öderland geht um die Welt,
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Graf Öderland geht mit der Axt in der Hand,
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Graf Öderland geht um die Welt!
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Vater und Mutter blicken erschrocken nach der Türe, Inge sitzt unverändert und blickt
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ins Leere, in der Türe steht der Staatsanwalt mit einer Ledermappe, Hut und Mantel sind
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verschneit.
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MUTTER Sie wollen zu uns?
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Der Staatsanwalt schweigt.
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VATER Wir sind grad beim Essen.
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Der Staatsanwalt schweigt.
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MUTTER Wer sind Sie?
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Der Staatsanwalt schweigt.
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INGE Wollen der Herr sich setzen?
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Sie gibt ihren Hocker.
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Der Herr sind müd, denke ich, von der Nacht.
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STAATSANWALT Sehr. –
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Schweigen
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Ich möchte nicht stören ...
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MUTTER Sie kommen aus der Stadt herauf?
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STAATSANWALT Das ist sonst nicht meine Art ...
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INGE Wollen der Herr etwas essen?
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MUTTER Wir haben bloß Suppe.
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INGE Bohnensuppe.
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MUTTER Hol den Teller, den andern.
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Inge geht hinaus.
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VATER Ja.
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STAATSANWALT Eine einsame Gegend hier ...
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VATER Ja.
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MUTTER Da hat sich schon manch einer verirrt im Winter, wenn die Wege verschneit sind.
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Aber Sie können's nicht verfehlen, wenn Sie ins Dorf wollen. Immer am Bach entlang.
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Jetzt ist er zugefroren, da brauchen Sie keine Brücke, da kommen Sie jetzt hinüber, wo Sie
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wollen.
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Pause
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Ich weiß ja nicht, ob Sie ins Dorf wollen.
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Pause
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Hier heraus kommt niemand.
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Der Staatsanwalt schweigt.
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VATER Hier gibt es nichts zu holen! meint sie. Die Hütte, zwei Monate lang ohne Sonne, ein
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Schlitten und ein Gaul, Sie haben mich ja gesehen, Holz, das ist alles, was es hier gibt, eine
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Ziege, wenn Sie's wissen wollen, und neunzehn Hühner, das ist alles, und der Gaul ist auch
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nichts wert.
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STAATSANWALT Wie meinen Sie das?
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MUTTER Wir sind arm! meint er.
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VATER Einmal ist einer gekommen –
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MUTTER Laß das!
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Der Vater löffelt seine Suppe.
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Der Herr müssen halt Geduld haben. Das Kind muß ihn erst waschen, den Teller, wir
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brauchen nie einen vierten Teller.
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STAATSANWALT Ich bin froh um die Wärme.
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VATER Einmal ist einer gekommen, ja, vor einundzwanzig Jahren, der hat meinen Vater
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erschlagen und die Mutter dazu. Keine Krone hat er genommen. Ein Verrückter. Mit einer
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Axt hat er sie erschlagen, als ich im Wald war. Und gefunden haben sie ihn nie.
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MUTTER Warum erzählst du das immer.
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VATER Es geschieht nicht viel in unserm Tal.
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STAATSANWALT Fürchten Sie sich nicht!
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VATER Ich fürcht mich nie.
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STAATSANWALT Ich möchte, ich dürfte das gleiche sagen –
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Inge kommt mit dem gewaschenen Teller.
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Es ist mir nicht recht, daß ich einfach so komme, aber ich habe wirklich Hunger.
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MUTTER Brot ist genug da.
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STAATSANWALT Das ist nicht meine Art sonst ...
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Er bekommt Brot.
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Ich danke.
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Er bekommt den gefüllten Suppenteller.
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Ich danke.
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Schweigen
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VATER Wenn ich den Schlitten geschirrt hab, kommst du. Verstanden? Alles kann ich nicht
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allein machen.
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INGE Ich?
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VATER Knüppel binden, dazu braucht's keinen Mann.
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STAATSANWALT Vielleicht kann ich etwas helfen?
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MUTTER Essen Sie jetzt Ihre Suppe, solang sie warm ist.
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STAATSANWALT Aber nachher.
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VATER So war das nicht gemeint.
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STAATSANWALT Warum nicht?
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Der Vater geht hinaus.
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MUTTER Du hast's gehört! Laß ihn nicht warten, wenn der Schlitten geschirrt ist. Er
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schimpft schon den ganzen Tag. Und vergiß nicht die Hühner!
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Die Mutter geht hinaus.
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STAATSANWALT Ich weiß nicht, woran es mich erinnert.
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INGE Was?
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STAATSANWALT Bohnensuppe ...
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INGE Ich bin froh, daß Sie gekommen sind.
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STAATSANWALT Ich? Wieso?
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INGE Bevor ich alt bin und sterbe.
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STAATSANWALT Du – ?
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INGE Nehmen Sie mich fort von hier!
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STAATSANWALT Warum?
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INGE Sehen Sie's nicht?
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STAATSANWALT – ja ...
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INGE Öd ist es hier. Immer. Wenn Sie noch zehn Jahre in dieser Küche sitzen, da kommt
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nichts dazu, in einer halben Stunde wissen Sie alles.
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STAATSANWALT Ich kenne das ...
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INGE Nehmen Sie mich wirklich fort von hier?!
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Der Staatsanwalt löffelt seine Suppe.
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Ich heiße Inge.
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STAATSANWALT Inge?
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INGE Warum blicken Sie mich so an?
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STAATSANWALT Ich erinnere mich. Früher schon hatte ich dieses Gefühl. Immer schon.
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So ein hohles Gefühl, daß ich anderswo erwartet werde. Immer anderswo. Und daß ich jetzt
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etwas erledigen müßte.
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INGE Was denn?
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STAATSANWALT Keine Ahnung!
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Inge kniet vor dem Herd.
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Früher meinte ich immer, ich wüßte es, nur stimmte es nie. Ich konnte tun, was immer
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meine Pflicht war, und ich wurde es dennoch nie los, das Gefühl, daß ich meine Pflicht
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versäume mit jedem Atemzug, nie. Nie.
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INGE Wollen Sie noch mehr Suppe?
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STAATSANWALT Wie heißest du?
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INGE Inge.
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STAATSANWALT – wenn ich bloß wüßte, wer ich selbst bin.
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INGE Das wissen Sie nicht?
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STAATSANWALT All das hier habe ich schon einmal erlebt: wie du vor dem Feuer kniest.
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Genau so. Dein Haar voll Glut, und wie du mich anschaust. Genau so. Mit Augen voll Glut.
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Inge legt Holz auf.
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Ich hatte solche Angst, als ich den alten Köhler erblickte. Gestern. Nicht wegen der Axt,
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weißt du, und nicht wegen der Hunde. Ich habe Angst vor Menschen, am wenigsten vor
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dir: – Du fragst nicht, wer ich sei. Das ist wunderbar. Du mußt nicht denken, ich sei verliebt
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in dich, weil du jung bist und herrlich –
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INGE Das bin ich nicht.
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STAATSANWALT – wie eine Fee.
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INGE Erzählen Sie weiter!
202
STAATSANWALT Das ist alles, woran ich mich erinnere: Ich habe einen Beruf, aber
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plötzlich stehe ich im Wald, meine Ledermappe unterm Arm, und es ist eine Gegend, die
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ich noch nie erblickt habe. Und plötzlich habe ich Zeit. Da, hinter mir, plötzlich ist es weg,
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ein Wald voll Schnee, weiter nichts, Schnee, der alle Spuren löscht, Stämme ringsum,
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nichts als Föhren, rot, Stämme. Und dazu die hallenden Schläge einer Axt ...
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Inge erhebt sich vom Herd.
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Hilde heißest du?
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INGE Inge.
210
STAATSANWALT Woher kenne ich dich?
211
INGE Erzählen Sie weiter!
212
STAATSANWALT Ich habe nichts zu erzählen ...
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[...]

Aus: Frisch, Max: Graf Öderland. Eine Moritat in zwölf Bildern. Surkamp Verlag, Frankfurt am Main 2020, S. 21-27.

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