Aufgabe 2
Interpretation eines literarischen Textes
Thema: Heinrich Mann (* 1871 - † 1950): Der Untertan (1918) Aufgabenstellung:- Interpretiere den Romananfang.
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Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und
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viel an den Ohren litt. Ungern verließ er im Winter die warme Stube, im Sommer den engen
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Garten, der nach den Lumpen der Papierfabrik roch und über dessen Goldregen- und
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Fliederbäumen das hölzerne Fachwerk der alten Häuser stand. Wenn Diederich vom
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Märchenbuch, dem geliebten Märchenbuch, aufsah, erschrak er manchmal sehr. Neben ihm auf
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der Bank hatte ganz deutlich eine Kröte gesessen, halb so groß wie er selbst! Oder an der Mauer
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dort drüben stak bis zum Bauch in der Erde ein Gnom und schielte her!
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Fürchterlicher als Gnom und Kröte war der Vater, und obendrein sollte man ihn lieben.
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Diederich liebte ihn. Wenn er genascht oder gelogen hatte, drückte er sich so lange schmatzend
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und scheu wedelnd am Schreibpult umher, bis Herr Heßling etwas merkte und den Stock von
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der Wand nahm. Jede nicht herausgekommene Untat mischte in Diederichs Ergebenheit und
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Vertrauen einen Zweifel. Als der Vater einmal mit seinem invaliden Bein die Treppe
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herunterfiel, klatschte der Sohn wie toll in die Hände - worauf er weglief.
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Kam er nach einer Abstrafung mit gedunsenem Gesicht und unter Geheul an der Werkstätte
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vorbei, dann lachten die Arbeiter. Sofort aber streckte Diederich nach ihnen die Zunge aus und
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stampfte. Er war sich bewußt: ‚Ich habe Prügel bekommen, aber von meinem Papa. Ihr wäret
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froh, wenn ihr auch Prügel von ihm bekommen könntet. Aber dafür seid ihr viel zuwenig.‘
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Er bewegte sich zwischen ihnen wie ein launenhafter Pascha; drohte ihnen bald, es dem
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Vater zu melden, daß sie sich Bier holten, und bald ließ er kokett aus sich die Stunde
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herausschmeicheln, zu der Herr Heßling zurückkehren sollte. Sie waren auf der Hut vor dem
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Prinzipal: er kannte sie, er hatte selbst gearbeitet. Er war Büttenschöpfer gewesen in den alten
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Mühlen, wo jeder Bogen mit der Hand geformt ward; hatte dazwischen alle Kriege mitgemacht
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und nach dem letzten, als jeder Geld fand, eine Papiermaschine kaufen können. Ein Holländer
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und eine Schneidemaschine vervollständigten die Einrichtung. Er selbst zählte die Bogen nach.
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Die von den Lumpen abgetrennten Knöpfe durften ihm nicht entgehen. Sein kleiner Sohn ließ
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sich oft von den Frauen welche zustecken, dafür, daß er die nicht angab, die einige mitnahmen.
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Eines Tages hatte er so viele beisammen, daß ihm der Gedanke kam, sie beim Krämer gegen
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Bonbons umzutauschen. Es gelang – aber am Abend kniete Diederich, indes er den letzten
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Malzzucker zerlutschte, sich ins Bett und betete, angstgeschüttelt, zu dem schrecklichen lieben
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Gott, er möge das Verbrechen unentdeckt lassen. Er brachte es dennoch an den Tag. Dem Vater,
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der immer nur methodisch, Ehrenfestigkeit und Pflicht auf dem verwitterten
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Unteroffiziersgesicht, den Stock geführt hatte, zuckte diesmal die Hand, und in die eine Bürste
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seines silberigen Kaiserbartes lief, über die Runzeln hüpfend, eine Träne. „Mein Sohn hat
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gestohlen“, sagte er außer Atem, mit dumpfer Stimme, und sah sich das Kind an wie einen
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verdächtigen Eindringling. „Du betrügst und stiehlst. Du brauchst nur noch einen Menschen
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totzuschlagen.“
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Frau Heßling wollte Diederich nötigen, vor dem Vater hinzufallen und ihn um Verzeihung
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zu bitten, weil der Vater seinetwegen geweint habe! Aber Diederichs Instinkt sagte ihm, daß
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dies den Vater nur noch mehr erbost haben würde. Mit der gefühlsseligen Art seiner Frau war
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Heßling durchaus nicht einverstanden. Sie verdarb das Kind fürs Leben. Übrigens ertappte er
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sie geradeso auf Lügen wie den Diedel. Kein Wunder, da sie Romane las! Am Sonnabendabend
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war nicht immer die Wochenarbeit getan, die ihr aufgegeben war. Sie klatschte, anstatt sich zu
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rühren, mit dem Mädchen ... Und Heßling wußte noch nicht einmal, daß seine Frau auch
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naschte, gerade wie das Kind. Bei Tisch wagte sie sich nicht satt zu essen und schlich
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nachträglich an den Schrank. Hätte sie sich in die Werkstätte getraut, würde sie auch Knöpfe
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gestohlen haben.
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Sie betete mit dem Kind „aus dem Herzen“, nicht nach Formeln, und bekam dabei gerötete
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Wangenknochen. Sie schlug es auch, aber Hals über Kopf und verzerrt von Rachsucht. Oft war
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sie dabei im Unrecht. Dann drohte Diederich, sie beim Vater zu verklagen; tat so, als ginge er
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ins Kontor, und freute sich irgendwo hinter einer Mauer, daß sie nun Angst hatte. Ihre zärtlichen
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Stunden nützte er aus; aber er fühlte gar keine Achtung vor seiner Mutter. Ihre Ähnlichkeit mit
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ihm selbst verbot es ihm. Denn er achtete sich selbst nicht, dafür ging er mit einem zu schlechten
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Gewissen durch sein Leben, das vor den Augen des Herrn nicht hätte bestehen können.
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Dennoch hatten die beiden von Gemüt überfließende Dämmerstunden. Aus den Festen
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preßten sie gemeinsam, vermittelst Gesang, Klavierspiel und Märchenerzählen, den letzten
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Tropfen Stimmung heraus. Als Diederich am Christkind zu zweifeln anfing, ließ er sich von
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der Mutter bewegen, noch ein Weilchen zu glauben, und er fühlte sich dadurch erleichtert, treu
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und gut. Auch an ein Gespenst, droben auf der Burg, glaubte er hartnäckig, und der Vater, der
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davon nichts hören wollte, schien ihm zu stolz, beinahe strafwürdig. Die Mutter nährte ihn mit
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Märchen. Sie teilte ihm ihre Angst mit vor den neuen, belebten Straßen und der Pferdebahn
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die hindurchfuhr, und führte ihn über den Wall nach der Burg. Dort genossen sie das wohlige
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Grausen.
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Ecke der Meisestraße hinwieder mußte man an einem Polizisten vorüber, der, wen er wollte
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ins Gefängnis abführen konnte! Diederichs Herz klopfte beweglich; wie gern hätte er einen
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weiten Bogen gemacht! Aber dann würde der Polizist sein schlechtes Gewissen erkannt und
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ihn aufgegriffen haben. Es war vielmehr geboten, zu beweisen, daß man sich rein und ohne
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Schuld fühlte – und mit zitternder Stimme fragte Diederich den Schutzmann nach der Uhr.
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Nach so vielen furchtbaren Gewalten, denen man unterworfen war, nach den Märchenkröten,
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dem Vater, dem lieben Gott, dem Burggespenst und der Polizei, nach dem Schornsteinfeger,
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der einen durch den ganzen Schlot schleifen konnte, bis man auch ein schwarzer Mann war,
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und dem Doktor, der einen im Hals pinseln durfte und schütteln, wenn man schrie – nach allen
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diesen Gewalten geriet nun Diederich unter eine noch furchtbarere, den Menschen auf einmal
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ganz verschlingende: die Schule. Diederich betrat sie heulend, und auch die Antworten, die er
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wußte, konnte er nicht geben, weil er heulen mußte. Allmählich lernte er den Drang zum
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Weinen gerade dann auszunützen, wenn er nicht gelernt hatte – denn alle Angst machte ihn
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nicht fleißiger oder weniger träumerisch –, und vermied so, bis die Lehrer sein System
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durchschaut hatten, manche üblen Folgen. Dem ersten, der es durchschaute, schenkte er seine
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ganze Achtung; er war plötzlich still und sah ihn, über den gekrümmten und vors Gesicht
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gehaltenen Arm hinweg, voll scheuer Hingabe an. Immer blieb er den scharfen Lehrern ergeben
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und willfährig. Den gutmütigen spielte er kleine, schwer nachweisbare Streiche, deren er sich
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nicht rühmte. Mit viel größerer Genugtuung sprach er von einer Verheerung in den Zeugnissen
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von einem riesigen Strafgericht. Bei Tisch berichtete er: „Heute hat Herr Behneke wieder drei
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durchgehauen.“ Und wenn gefragt ward, wen: „Einer war ich.“
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Denn Diederich war so beschaffen, daß die Zugehörigkeit zu einem unpersönlichen Ganzen,
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diesem unerbittlichen, menschenverachtenden, maschinellen Organismus, der das
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Gymnasium war, ihn beglückte, daß die Macht, die kalte Macht, an der er selbst, wenn auch
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nur leidend, teilhatte, sein Stolz war. Am Geburtstag des Ordinarius bekränzte man Katheder
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und Tafel. Diederich umwand sogar den Rohrstock.
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[...]
Aus: Mann, Heinrich: Der Untertan. S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2021, S. 7 - 10.
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- Eines der bedeutendsten Werke von Thomas Mann trägt den Titel Der Untertan, wurde 1914 verfasst, aufgrund des Ersten Weltkriegs jedoch erst vier Jahre später veröffentlicht.
- Mithilfe seines satirischen Romans stellt der Autor seiner Leserschaft die damalige deutsche antidemokratische Gesellschaft unter kaiserlicher Herrschaft kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs kritisch vor Augen.
- Das erste Kapitel des Romans gibt einen Einblick in das Leben der Familie Heßling und thematisiert die Charakterbildung des Protagonisten Diederich.
Hauptteil
Formale Analyse
- Der auktoriale Erzähler hat Zugang zur Gefühls- und Gedankenwelt aller Figuren und gibt die Inhalte objektiv wieder. Der Leser erhält einen umfassenden Einblick in das Gesellschafts- und Familienleben.
- Die Sprache des Autors ist realistisch, detailreich und lebendig. Dazu tragen zahlreiche Stilmittel und sprachliche Bilder bei. Thomas Mann besticht durch seine ausdrucksstarke Sprache.
- Weiterhin enthält das Werk Merkmale eines Entwicklungsromans, der typisch für das 18. bzw. 19. Jahrhundert ist und die Entwicklung junger Charaktere thematisiert. Inwiefern der Protagonist in diesem Roman zu einem typischen Individuum heranreift, bleibt jedoch fraglich.
- Der Leser wird mit einer chronologischen Beschreibung der charakterlichen Entwicklung des Protagonisten konfrontiert. Diese Entwicklung reicht im Text von der frühen Kindheit bis zum Schulstart.
- Es handelt sich um zeitraffendes Erzählen, d.h. die Erzählzeit ist deutlich kürzer als die erzählte Zeit.
- Trotz des realistischen Erzählens findet man stellenweise einen satirischen Schreibstil vor (z. B. Die Beschreibung des Systems Schule als „unerbittlichen, menschenverachtenden, maschinellen Organismus“, Z. 85), den der Autor bewusst intendiert hat, um den Respekt und Gehorsam sowie die Unterwürfigkeit überspitzt darzustellen und damit auch die Gesellschaft und in diesem Beispiel die Schule satirisch zu kritisieren. Der Roman wird auch häufig als Satire bezeichnet.
- Weiterhin wird Diederichs Charakter oft ironisch dargestellt (z. B. „Er bewegte sich zwischen ihnen wie ein launenhafter Pascha“, Z. 18). Diederich möchte tapfer und stark wirken, verharrt in Wirklichkeit jedoch in seiner opportunistischen Art. Dadurch wird stellvertretend die Absurdität, Falschheit und Scheinheiligkeit der Gesellschaft hervorgehoben. Auch in der ambivalenten Beziehung Diederichs zu seinem Vater findet man Ironie (z. B. „Diederich liebte ihn.“, Z. 9).
- Durch die Verwendung zahlreicher Metaphern und Symbole soll die tiefere Bedeutung der Charaktere oder Gegenständen ans Licht gebracht werden. Die „Papierfabrik“ (Z. 3) steht metaphorisch für das autoritäre System der Gesellschaft, in dem man sich anpassen muss. Das „Märchenbuch“ (Z. 5) steht für die Flucht in die Fantasiewelt und die Kompensation Diederichs Ängste, die Angst vor „Gnom und Kröte“ (Z. 8) für die kindliche Naivität und Unsicherheit des jungen Protagonisten.
- Durch den Vergleich „wie ein launenhafter Pascha“ (Z. 18) wird eine Veranschaulichung erzeugt. Diederich wird damit im übertragenen Sinne als launisch, ohne Benehmen oder Manieren bezeichnet. Dies passt wiederum zu seinem tyrannischen und zynischen Charakter.
- Der Autor setzt gezielt Wiederholungen (z. B. „daß die Macht, die kalte Macht ...“, Z. 86) ein, um die Macht der Autorität (in diesem Fall der Schule) zu verdeutlichen und seine Aussage zu verstärken.
- Außerdem gibt es verschiedene Leitmotive, die für den roten Faden des Romans sorgen (z. B. Familie, Unterwürfigkeit, Opportunismus, Macht).
- Alliterationen (z. B. „Ungern verließ er im Winter die warme Stube, im Sommer den engen Garten“, Z. 2 f.) lenken die Aufmerksamkeit des Lesers auf einen bestimmten Sachverhalt. In diesem Beispiel wird die soziale Isolation des Protagonisten verdeutlicht.
- Diederich hat bereits in diesem ersten Auszug des Romans Der Untertan allegorischen und metaphorischen Charakter. Gleichzeitig kann der Titel selbst als Allegorie verstanden werden. Diederich als Der Untertan steht repräsentativ und prototypisch für die Gesellschaftsanhänger des Kaisertums zur Zeit des Wilhelminismus und kann als ein durchschnittlicher Untertantypus zu dieser Zeit gesehen werden. Auch bei dem Nachnamen „Heßling“ handelt es sich um einen sprechenden Namen, der an „hässlich“ oder „Hänfling“ erinnert und demnach auf eine abwertende Personenbschreibung verweist.
- Durch die Verwendung der Klimax als Stilmittel steigert der Autor die Spannung und Aufregung des Protagonisten und betont die extreme Angst vor Autoriäten (z. B. Vgl. Z. 63-67).
Inhaltliche Analyse
- Der Romanauszug spielt in der fiktiven Stadt Netzig. Der Leser erhält einen Einblick in die Familiensituation der Heßlings zur Zeit des deutschen Kaiserreichs sowie die Kindheit und den Charakter des Protagonisten.
- Diederich, der Sohn von Mutter und Vater Heßling ist der Hauptprotagonist im Roman „Der Untertan“. Er wird zunächst als ein „weiches“ (Z. 1), sensibles und furchtsames (Vgl. Z. 1 ff.) Kind beschrieben, das nur ungern das Haus verlässt (Vgl. Z. 2). Es fürchtet sich z. B. vor einem „Gnom“ (Z. 8) und einer „Kröte“ (Z. 8).
- Vater Heßling ist erfolgreicher Besitzer einer Papierfabrik im Heimatort der Familie und wird durch den auktorialen Erzähler eingangs als „fürchterlich“ (Z. 8) beschrieben. Wenn der Junge lügt, erhält er von seinem pedantischen und pflichtbewussten Vater Prügel (Vgl. Z. 9 ff.). Trotz der autoritären und gewalttätigen Art seines Vaters liebt und bewundert er ihn (Vgl. Z. 9 ff.). Es scheint, als wäre Diederich von der mächtigen Position seines Vaters beinahe fasziniert: „‚Ich habe Prügel bekommen, aber von meinem Papa. Ihr wäret froh, wenn ihr auch Prügel von ihm bekommen könntet. Aber dafür seid ihr viel zuwenig.‘“ (Z. 16 f.). Die Idealisierung mächtiger Personen und das Streben, so zu sein wie sie, gehört zu fragwürdigen Charaktereigenschaften des Protagonisten. Er fühlt sich nur dann stark und als Person bestätigt, wenn er Gehorsamkeit, Disziplin und Unterwürfigkeit gegenüber Autoritäten leistet.
- Trotz seiner schüchternen und unbeholfenen Art versucht er sich als starke und überlegene Person darzustellen. So ist er auch dazu bereit, die Angestellten seines Vaters zu verraten und ihnen somit zu drohen (Vgl. Z. 18 ff.). Um sein eigenes Ziel, den sozialen Aufstieg und die Stärkung seiner eigenen Position nicht aus den Augen verlieren, stellt er andere schlechter dar. Sein unregulierter Drang nach Anerkennung, Einfluss und Macht zeichnet ihn aus.
- Er hat Freude daran, andere Menschen zu unterdrücken und sich selbst autoritär und tyrannisch zu zeigen. Indem er sich einerseits unterwirft, andererseits jedoch auch Schwächere unterdrückt, wird sein ambivalenter Charakter deutlich. Er möchte die Gunst der Mächtigen und Einflussreichen gewinnen. Anpassungsfähigkeit und Opportunismus zeichnen ihn aus. Gleichzeitig zeigt er sich gegenüber Menschen, die schwächer sind als er und ihm unterlegen sind, arrogant und überheblich (Vgl. Z. 16 ff.).
- Diederichs Furcht vor den Strafen seines Vaters wird auch deutlich, wenn Diederich sich in Betrügereien verstrickt. Aus der Papierfabrik seines Vaters stiehlt er Knöpfe und tauscht diese gegen Bonbons ein, woraufhin ihn enorme Schuldgefühle plagen (Vgl. Z. 24 ff.). Sein Vater fördert die traditionelle Vorstellung eines „Untertanen“, der die autoritären Personen bedingungslos respektiert und ihnen gehorcht. Die Vater-Sohn-Beziehung kann als problematisch, äußerst ambivalent und komplex betrachtet werden. Vater Heßling lehrt seinen Sohn, sich den äußeren Erwartungen zu unterwerfen. Es wird deutlich, wie stark das äußere Umfeld und das eigene Elternhaus einen Menschen prägen.
- Die Mutter des Protagonisten hat ebenfalls großen Respekt vor ihrem Mann. In Hinsicht auf ihre sensible, gefühlsbetonte, ängstliche und verträumte Art (Vgl. Z. 39 ff.) lassen sich Parallelen zu ihrem Sohn Diederich ziehen. Sie ist eine emotionale Figur, liest ihrem Sohn Märchen vor und teilt seine Ängste (Vgl. Z. 59 ff.), worüber sie oftmals ihre Pflichten im Haushalt vergisst. In ihrer Furcht vor dem Vater verhält sie sich gegenüber ihrem eigenen Sohn ungerecht und schlägt ihn rachsüchtig. Sie erwartet von ihrem Sohn, dass dieser seinen Vater um Verzeihung bittet (Vgl. Z. 37 ff.). Daran zeigt sich ihre Ehrfurcht gegenüber dem väterlichen Familienoberhaupt. Diederich kommt der Erwartung seiner Mutter jedoch nicht nach (Vgl. Z. 38 f.). Im Gegensatz zu seinem Vater empfindet er gegenüber seiner Mutter „keine Achtung“ (Z. 51).
- Achtung und Ehrfurcht empfindet er jedoch nicht nur gegenüber „dem Vater, [sondern auch gegenüber] dem lieben Gott, dem Burggespenst und der Polizei“ (Z. 69). Der Glaube an Symbolfiguren wie dem Christkind lässt ihn „treu und gut“ (Z. 57 f.) fühlen. Dahinter versteckt sich ebenfalls ein mögliches Indiz dafür, dass der Gehorsam gegenüber höheren Machtpositionen eine (be-)stärkende Wirkung auf ihn hat. Seine stark ausgeprägte Unterwürfigkeit gegenüber Autoritäten, „furchtbaren Gewalten“ (Z. 68) zeichnen ihn bereits als Kind aus. Dies wird ebenfalls deutlich, wenn er sich bspw. gegenüber einem Polizisten grundlos scheu und feige verhält (Vgl. Z. 63 ff.). Diederichs Selbstbewusstsein und Stärke sind ausschließlich Teil seiner Fassade. Selbstachtung fehlt ihm gänzlich.
- Ähnlich wie der Polizist fungieren auch die Lehrer an seiner späteren Schule als Projektionsfiguren seiner charakterlichen Entwicklung und beeinflussen ihn stark. Diederich ist beinahe stolz darauf, Teil des mächtigen „Organismus“ (Z. 85) Schule zu sein und passt sich seinen Lehrern an. Der bedingungslose und blinde Gehorsam gegenüber einem „unerbittlichen, menschenverachtenden, maschinellen Organismus, der das Gymnasium war“ (Z. 85) überträgt sich später auf den gesamten Obrigkeitsstaat des Kaisertums. Damit wirkt Diederich weniger wie ein Individuum, sondern macht sich selbst zu einer prototypischen Figur seiner Zeit.
Schluss
- Thomas Mann stellt Diederich Heßling als eine tragische Figur dar, die ihre moralischen und menschlichen Werte aufgrund der egoistischen Aufstiegssucht und Autoritätshörigkeit beinahe ganz verliert. Der Autor stellt auf satirisch kritische Weise die negative Seite der Obrigkeitsgläubigkeit dar und macht die problematische Charakterstruktur des Protagonisten deutlich, die die Grundlage für weitere Konflikte und Entwicklungen bildet. Der Einfluss des sozialen Umfeldes spielt in der Charakterbildung eine wichtige Rolle.
- Das Werk Der Untertan spiegelt eine ganze Epoche im Hinblick auf soziale und politische Gegebenheiten wider. Es ist als Kritik an den autoritären und nationalistischen Tendenzen der repressiven und moralisch verdorbenen Gesellschaft mit ihren Schwächen und Fehlhaltungen zu sehen.
- Neben der politischen Intention und Kritik sowie dem historischen Kontext sollten jedoch auch die sprachlichen Qualitäten und die literarische Tiefe von Manns Arbeit genauer analysiert werden.