Aufgabe 1
Interpretation eines Gedichtes mit weiterführendem Vergleich
Thema: Walter Rheiner (* 1895 - † 1925): Das zehnte Abendlied (1917)Ulla Hahn (* 1945): Immergrün (1985) Aufgabenstellung:
- Interpretiere die Ode Das zehnte Abendlied von Walter Rheiner. (ca. 60 %)
- Vergleiche die Verwendung und Gestaltung des Traummotivs in den beiden Gedichten. (ca. 40 %)
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Des Abends grüne Woge erhebt sich groß.
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Die Firmamente über uns singen leis.
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In dunklem Rausch ein Baum gewaltig
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wirft sich im Tanze dem Mond entgegen.
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Der Wald flammt schwer, ein finsteres Feuer weit.
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Die Wiese schwankt gespenstisch, ein Schiff im Raum.
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Gestirne hangen, fernes Antlitz,
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fremd zwischen Wolken, die näher schweifen.
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Wir schlafen tief. Es nistet die Stirn im Stein
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des Hauses, das mit uns durch die Träume fährt,
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die uns der Sonne Wein noch schenkte,
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dunkel am Horizont: Mohnes Blüte!
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Die Nacht äugt groß am Fenster, ein buntes Tier.
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Vom Wolkenrand träuft Licht auf der Lippe Flor.
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Die Hand erbleichend schwankt im Schlafe.
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Düstre Musiken erklingen innen
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in unsrer Brust. Unendliche Nacht dort blüht
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und steigt und tönt. Ein Meer schwemmt durch uns hindurch.
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Wir sinken tief und tiefer immer,
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schlafend und träumend zu uns hinüber!
Aus: Rheiner, Walter: Kokain. Lyrik. Prosa. Briefe. Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1985, S. 143. Material 2 Immergrün Ulla Hahn
1
Jetzt wird es höchste Zeit
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die Träume einzusammeln
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nicht nur die leichthin
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abzulösen sind. Die schweren
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leeren sitzen tiefer längst
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der Haut verwachsen gut
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genährt mit wahrem Blut. So
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wuchern sie sich wirklich
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in mein Leben: Efeu am Baum
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der immergrün erstickt.
Aus: Schultz, Joachim (Hrsg.): Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet. Farben in der deutschen Lyrik von der Romantik bis zur Gegenwart. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1994, S. 81.
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Einleitung
- Das Gedicht Das zehnte Abendlied stammt von dem Autor Walter Rheiner und wurde im Jahr 1917 veröffentlicht.
- Das zehnte Abendlied ist Teil Rheiners Werk Insel der Seligen. Ein Abendlied bestehend aus zehn lyrischen Texten, die allesamt die Themen Rausch, Halluzination, Nacht, Entfremdung und Hoffnung auf Erlösung konstatieren.
- In dem vorliegenden Gedicht thematisiert der Autor die tiefe Verbundenheit zwischen Mensch, innerem Erleben und der Natur und bietet seiner Leserschaft die Möglichkeit, über die eigene Existenz nachzudenken.
Hauptteil
Formale Analyse- Das Gedicht besteht aus fünf Strophen zu jeweils vier Versen.
- Aufgrund der gleichmäßigen Strophenverteilung und seiner reimlosen Form bestehend aus freien Rhythmen, kann man Rheiners Werk zweifellos der Gedichtform Ode zuordnen.
- Die Gleichmäßigkeit der Gedichtform unterstreicht den erhabenen und klangvollen Sprachstil des Gedichts. Trotz der reimlosen Form weist das Gedicht einen durchweg melodischen Charakter auf. Die liedhafte Wirkung korrespondiert mit der Komposita „Abendlied“ aus dem Titel.
- Personifikationen der Natur und ihrer Elemente (z. B. „Des Abends grüne Woge erhebt sich groß.“, V. 1; „Die Firmamente über uns singen leis.“, V. 2; „Die Wiese schwankt gespenstisch“, V. 6) verstärken das Motiv des Schreckens und der Bedrohung, können jedoch ebenfalls Zeichen der menschlichen Seite der Natur sein. Die Natur nähert sich dem Menschen insofern an, dass sie seine Gefühle repräsentiert.
- Enjambements (z. B. V. 9-10) intensivieren den melodischen und zugleich dynamischen Charakter des Gedichts.
- Expressive Adjektive und Verben (z. B. „gewaltig“, V. 3; „flammt“, V. 5; „dunkel“, V. 12) spiegeln die Dunkelheit und Macht der Natur wider.
- Auch Alliterationen (z. B. „finsteres Feuer“, V. 5) verstärken die bedrohliche Wirkung der Natur.
- Synästhesien (z. B. „Unendliche Nacht dort blüht und steigt und tönt“, V. 17 f.) unterstreichen die bewusstseinserweiternde Wirkung, die der nächtliche Traumzustand für die Menschen hat.
- Die Farbsymbolik sorgt für die emotionale Tiefe des Gedichts und vermittelt die Empfindungen und Gefühle des Lyrischen Wir. Die Farbe Grün („grüne Woge“, V. 1) steht für den hoffnungsvollen Neuanfang, den sich das Lyrische Wir wünscht. Die immer wieder auftauchende Dunkelheit („dunklem Rausch“, V. 3; „dunkel am Horizont“, V. 12) symbolisiert das Unbekannte, Geheimnisvolle und die Rauschzusände der Natur.
- Antithetische Strukturen (z. B. „Des Abends grüne Woge erhebt sich groß. / Die Firmamente über uns singen leis.“, V. 1 f. und „In dunklem Rausch ein Baum gewaltig / wirft sich im Tanze dem Mond entgegen“, V. 3 f.) betonen die Kontraste der vielschichtigen Natur. In diesem Beispiel steht die Ruhe und Harmonie der abendlichen Landschaft im Gegensatz zur gewalttätigen und dunklen Seite der Natur.
- Der Autor lässt ein Lyrisches Wir bzw. ein Lyrisches Ich (welches stellvertretend für eine Gruppe von Menschen spricht) zu Wort kommen, das sich im Traum in einem realitätsfernen Zustand in der Natur befindet. Der Traumzustand gleicht einer Art von Rausch (Vgl. „dunklem Rausch“, V. 3), Trance oder Halluzination. Stellenweise nimmt das Lyrische Wir die zahlreichen Sinneseindrücke gleichzeitig wahr. Die konfusen Wahrnehmungen ohne jegliche Zeitangaben sind typisch für traumähnliche Zustände.
- Die Beschreibung der Natur fällt größtenteils negativ aus. Die düstere Natur hat eine bedrohliche Wirkung auf das Lyrische Wir (z. B. „finsteres Feuer“, V. 5; „gespenstisch“, V. 6; „Düstere Musiken“, V. 16). Außerdem wird sie im gesamten Gedicht als mächtiger Gegenpart zum Menschen dargestellt (z. B. „grüne Woge erhebt sich groß“, V. 1).
- Das Lyrisches Wir befindet sich im Schlaf bzw. Traum („Wir schlafen tief“, V. 9) in einer äußerst passiven, teilweise verwirrten Rolle. Die Natur hingegen ist ständig in Bewegung.
- Die personifizierte Nacht dominiert die Menschengruppe und sorgt dafür, dass sie die Natur in halluzinogenen Bildern wahrnimmt. Die konfusen, bedrohlichen Naturszenen geben im Umkehrschluss auch Hinweise auf das Seelenleben des Lyrischen Wir. Die Natur kann als Spiegelbild der inneren Welt des Ichs fungieren und somit den Gefühlen und Emotionen des Lyrischen Wir im Gedicht entsprechen.
- Traumzustände wie diese geben Aufschluss über die (verborgenen) Wünsche und Sehnsüchte des Menschen. Der Traum kann somit eine psychologische Funktion erfüllen. Die Intention des Autors umfasst eine Sehnsucht nach Freiheit und Weite, worauf unter anderem die „Gestirne“ (V. 7) und „Wolken“ (V. 8) sowie die Hoffnung auf Erlösung durch den rauschhaften Zustand verweisen (Vgl. V. 15 ff.). Die Metaphorik der „Blüte“ (V. 12) und des Blühens (Vgl. V. 17) verweist zusätzlich auf einen möglichen Neuanfang, eine Erlösung. Stellenweise vermutet man, dass die Menschengruppe hofft, durch den Tod erlöst zu werden (Vgl. „Die Hand erbleichend“, V. 15; „Düstre Musiken“, V. 16).
Fazit
- Sowohl auf inhaltlicher als auch formaler Ebene lässt sich Rheiners Gedicht der Epoche des Expressionismus zuordnen. Dafür sprechen die starke Ausdruckskraft, Themen wie das Verlorensein, Chaos, die Erneuerung, Zerrissenheit (Ich-Verlust), die zahlreichen Naturbeschreibungen sowie der Bruch mit traditioneller Sprache (Reimlosigkeit, expressive Wortarten).
- Das zehnte Abendlied enthält zahlreiche autobiografische Züge im Hinblick auf die Themenauswahl. Der Autor selbst war lange Zeit seines Lebens drogensüchtig und hat im Rausch auf die tödliche Erlösung gehofft. Die Themen Trunkenheit und Rauschzustand tauchen auch im Gedicht auf (z. B. „Der Wald flammt schwer, ein finsteres Feuer weit. Die Wiese schwankt gespenstisch“, V. 5 f.; „Die Hand erbleichend schwankt im Schlafe. Düstre Musiken erklingen innen“, V. 15 f.).
Teilaufgabe 2
Einleitung
- Auch im Gedicht Immergrün, geschrieben von Ulla Hahn und im Jahr 1985 veröffentlicht, spielt das Traummotiv eine wichtige Rolle.
- Im Folgenden soll die zuvor analysierte Ode Das zehnte Abendlied von Walter Rheiner mit Hahns Gedicht Immergrün im Hinblick auf die Verwendung und Gestaltung des Traummotivs verglichen werden.
Hauptteil
Gemeinsamkeiten- In beiden Werken wird das Traummotiv thematisiert. Das Träumen hat sowohl im ersten als auch zweiten Gedicht eine stark beeinflussende und zerstörerische Wirkung auf den Menschen. Die Bedeutung der Träume, Erinnerungen und Erfahrungen für die menschliche Existenz und das gegenwärtige Leben spielt in beiden Gedichten eine wichtige Rolle.
- Eine Verbindung mit der Natur ist ebenfalls in beiden Gedichten vorhanden, auch wenn diese bei Ulla Hahn nicht so stark im Vordergrund steht und etwas neutraler ausfällt. Anhand der Naturmetaphorik wird die tiefe Verwurzelung des bisher Erlebten bildlich dargestellt.
- Außerdem brechen beide Gedichte auf formaler Ebene mit der Tradition. Die Autoren nutzen ihre künstlerische Freiheit und verwirklichen in effektvoller Ausdrucksweise persönliche Ideen, unabhängig von den traditionsgegebenen Erwartungen an die Lyrik. Dies passt wiederum zur Entstehungszeit der Gedichte (Das zehnte Abendlied: Expressionismus, Immergrün“: Postmoderne).
- Im Gedicht Immergrün ist eine starke Diskrepanz zwischen Realität und Traum gegeben, die das Lyrische Ich auch als solche anerkennt. Es setzt sich aktiv und reflektiert mit der Bedeutung von Träumen auseinander. In Rheiners Gedicht Das zehnte Abendlied nimmt das Lyrische Wir hingegen eine passive, orientierungslose und naive Rolle ein. Eine Auseinandersetzung des Lyrischen Wir mit den erlebten traumhaften Zuständen bleibt aus.
- Weiterhin thematisiert das zweite Gedicht die Schattenseite des Träumens. Es kommt zu einer Täuschung, die das Lyrische Ich jedoch längst durchschaut hat. Die Träume haben Auswirkung auf das Leben des Lyrischen Ich (Vgl. V. 8 f.). Das Lyrische Ich wird mit seiner Vergangenheit konfrontiert, indem es sich bewusst mit seinen Träumen auseinandersetzt (Vgl. V. 2). Auffällig ist, dass der Titel auf inhaltlicher Ebene nicht mit dem darauffolgenden Text korrespondiert. Die Lesererwartung an das Gedicht erfüllt sich nicht, ebenso wie auch die Träume eigentlich nicht der Realität entsprechen (Vgl. V. 9 f.).
- Außerdem unterscheiden sich die Gedichte in ihrer jeweiligen Intention. Im Gegensatz zum ersten Gedicht, welches den Wunsch nach Freiheit und Erlösung konstatiert, geht es im zweiten Gedicht um die bewusste Auseinandersetzung mit der Kehrseite des Träumens. Träume werden bei Ulla Hahn als Erfahrungen bzw. Erinnerungen dargestellt, die sich nicht einfach ablegen lassen. Sie beeinflussen unsere Gegenwart nicht nur (Gemeinsamkeit zum ersten Gedicht), sondern formen unsere Identität nachhaltig und wuchern dabei wie „Efeu am Baum“ (V. 9). Der Baum steht metaphorisch für den Menschen, der von negativen Erinnerungen eingenommen wird (Vgl. V. 9 f.).
Schluss
- In den Gedichten Das zehnte Abendlied von Walter Rheiner und Immergrün von Ulla Hahn ist das Traummotiv von großer Bedeutung. Im ersten Gedicht ist das Lyrische Wir konkret Teil des Traums (wenn auch nur passiv).
- Das aktiv denkende Lyrische Ich im Gedicht Immergrün macht hingegen auf die negative Seite der Träume aufmerksam und fordert den Rezipienten deutlich stärker zum Mitdenken auf. Träume können einen täuschenden Effekt haben, zur Verzerrung der Realität führen, womöglich Hoffnungen versprechen, die sich in der Realität gar nicht erfüllen und haben einen enormen Einfluss auf uns als Person.