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Basiswissen

Aufgabe 3

Analyse eines literarischen Textes mit weiterführendem Schreibauftrag

Thema:
Heinrich Detering (* 1959): Rede zur Eröffnung der Debattenreihe DEUTSCH 3.0
Aufgabenstellung:
  • Analysiere den Auszug aus Heinrich Deterings Rede. (ca. 70 %)
  • Nimm, unter Berücksichtigung von sprachpflegerischen Positionen, Stellung zu Deterings These, dass „überhaupt niemandem in unserem demokratischen Gemeinwesen, unserer [...] lebendigen Sprachgemeinschaft eine sprachpolizeiliche Autorität zukommt“. (ca. 30 %)
Material
Rede zur Eröffnung der Debattenreihe DEUTSCH 3.0 am 29.01.2014 in Berlin
Heinrich Detering
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Wenn der Vorsitzende einer Institution namens „Deutsche Akademie für Sprache und
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Dichtung“ an diesem Ort das Wort ergreift, dann gibt das zu Befürchtungen Anlass. Die
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Amtsbezeichnung könnte die Besorgnis erwecken, der Redner wolle in einem gewissermaßen
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standesgemäßen Kulturpessimismus grämlich den allgemeinen Sprachverfall des Deutschen
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beklagen und dagegen allerlei Ge- und Verbote fordern.
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Diese Sorge ist unbegründet: erstens weil glücklicherweise überhaupt niemandem in unserem
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demokratischen Gemeinwesen, unserer – und da bin ich schon bei meiner wichtigsten These –
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lebendigen Sprachgemeinschaft eine sprachpolizeiliche Autorität zukommt, und zweitens weil
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ich vom Germanistik-Studium bis in die Arbeiten der Akademie hinein so viel Respekt vor der
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zünftigen Linguistik gelernt habe, dass meine Ansichten über Sprachgebrauch und
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Sprachverfall jedenfalls sehr viel vorsichtiger geworden sind. Und außerdem bin ich ja auch
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nicht zu einer Enzyklika eingeladen, sondern zu einem „Impulsvortrag“. Also, nur einige
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vorläufige, um der Impulse willen manchmal auch polemisch pointierte Bemerkungen. [...]
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Der Magen der deutschen Sprache, das zeigt der auf breiter Datenbasis gründende, mit viel
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Scharfsinn erarbeitete Bericht mit beruhigender Überzeugungskraft, der Magen der deutschen
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Sprache hat gerade in den letzten hundert Jahren, die der Sprachbericht erfasst, erstaunlich viel
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verdaut. Und es ist dem Deutschen – um im Bilde zu bleiben – meistens sehr gut bekommen.
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Viel besser, als diejenigen argwöhnen, die bei jeder neuen Speise gleich vor Übelkeit, Brechreiz
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und Kollaps warnen. Nie war der Wortschatz unserer Sprache so umfangreich und differenziert
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wie heute, keineswegs haben die Merkmale einer bürokratischen Amtssprache überhand
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genommen, fremdsprachliche Wörter wie die viel beargwöhnten Anglizismen hat das
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Sprachsystem des Deutschen sich ebenso selbstbewusst einverleibt und angeeignet, wie es das
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in früheren Jahrhunderten mit dem Lateinischen und dem Französischen getan hat.
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Nun haben uns [...] auch wohlmeinende Kritiker beharrlich daran erinnert, dass Sprachsystem
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und Sprachgebrauch zwei grundsätzlich zu unterscheidende Bereiche bilden und dass die
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erfreuliche Stabilität des einen nicht automatisch einen Optimismus im Blick auf das andere
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begründen könne. Weil diese Mahnung unbedingt berechtigt ist, darum wird heute Abend die
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große Veranstaltungsreihe namens „DEUTSCH 3.0“ eröffnet. Weil der Wandel des
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Sprachgebrauchs uns tatsächlich alle angeht, nicht nur in der politischen, wirtschaftlichen,
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wissenschaftlichen und medialen Öffentlichkeit, sondern bis in unsere persönlichsten
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Lebensvollzüge hinein: darum muss über die Lage der deutschen Sprache als eines Systems
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hinaus weiter gefragt werden nach ihrem tatsächlichen Gebrauch in Gegenwart und nächster
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Zukunft. Wir wollen wissen, wohin die sprachliche Reise geht. Nach dem Sprachgebrauch in
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den neuen elektronischen Kommunikationsmedien also wird gefragt werden, nach dem
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Deutschen als einer Sprache der Wirtschaft und als einer Wissenschaftssprache und nach dem
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Verhältnis zwischen dem Deutschen und den Sprachen der nach Deutschland Eingewanderten
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und Einwandernden. [...]
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Meine Damen und Herren: Auch wenn Sprachsystem und Sprachgebrauch zwei verschiedene
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Dinge sind, so könnte die Einsicht in die Stabilität des ersteren uns doch an das Motto Johannes
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Pauls II. erinnern: „Habt keine Angst.“ Zum Beispiel vor einem von innen kommenden
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Sprachverfall, etwa in den diversen Erscheinungsformen dessen, was man verallgemeinernd
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Jugendsprache nennt. Die einfallsreichen Ausdrucksformen der Jugendsprache in den Kurz-
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und Kürzestformen von SMS und Twitter, in den diversen Umgangs- und Szenesprachen, in
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dialektähnlichen Formen wie dem türkisch-deutschen Kanak Sprak: wo Kulturpessimisten nur
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ein Abgleiten in ein Schrumpfdeutsch wahrnehmen, da ließe sich, tritt man nur ein paar Schritte
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zurück, auch eine „Kultur des Witzes“ erkennen – sehr anders in ihren Ausdrucksformen, aber
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oft keineswegs weniger geistreich und witzig als in den Moden von Spätaufklärung und
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Rokoko, für die diese Formel einmal geprägt worden ist. [...]
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Wieviel Angst vor der Überfremdung durch die Sprachen von, nehmen wir den Ausdruck ruhig
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versuchsweise auf, Armutsmigranten gilt eigentlich der Sprache und wieviel in Wahrheit nur
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der Armut? Das Französische als traditionelle Bildungssprache ist elegant, das Englisch-
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Amerikanische als ökonomische und politische Siegersprache ist schick, die Sprachen der
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ökonomischen Verlierer sind peinlich, werden allenfalls als Unterschicht-Phänomen
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wahrgenommen. Aber der Schritt vom Sprachpurismus zum ethnischen Sauberkeitsgebot ist
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manchmal schneller und leichter getan, als man denkt.
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Ich weiß, wir reden hier nicht vom kulturellen Austausch der Intellektuellen, sondern zuerst
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von den Konfliktzonen der Kindergärten und der Schulen, an denen der Sprachgebrauch oft
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wenig vom Reichtum des deutschen Wortschatzes bemerken lässt, der Weiterbildungsanstalten
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und der Arbeitsämter. Und wie könnte ich der Forderung widersprechen, dass Erwachsene und
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Kinder, die aus anderen Ländern und Sprachen in den deutschen Sprachraum gezogen sind, die
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deutsche Sprache erlernen und möglichst gut beherrschen sollen? Es ist ja einfach eine
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Forderung der praktischen Vernunft, eine Konsequenz der sozialen Erfahrung und notabene der
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elementaren Rechte von Freiheit und Teilhabe. Aber wenn die Mitschüler/innen von Türken
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Polen, Russen Lust bekommen, Türkisch, Polnisch, Russisch zu lernen, dann ist die praktische
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Förderung dieser Lust eine gute, eine grundvernünftige Tat nicht nur für den sozialen Frieden,
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sondern – daraufkommt es mir an – auch für die deutsche Kultur und Sprache. [...]
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Und natürlich weiß ich, dass die versöhnungsseligen Sonntagsappelle an Mehrsprachigkeit und
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Kulturaustausch vom gelebten Alltag manchmal so weit entfernt sind wie mein hier zu
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Demonstrationszwecken etwas aufgemöbelter Optimismus. Auch in Flensburg spricht nicht
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jeder Bürger Dänisch, auch in Saarbrücken ist die Einsprachigkeit verbreitet, auch in der
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Lausitz ist die Fremdenfeindlichkeit nicht ausgestorben. Und dass es in den deutschen
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Metropolen Stadtteile gibt, in denen vom Wunsch nach Austausch und gegenseitigem Lernen
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nur die Abschottung verfeindeter oder einander ignorierender Parallelgesellschaften geblieben
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ist: wer wollte das bestreiten? [...]
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„Lasst uns“, hat Goethe in den Maximen und Reflexionen notiert, „lasst uns doch vielseitig
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sein! Märkische Rübchen schmecken gut, am besten gemischt mit Kastanien, und diese beiden
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edlen Früchte wachsen weit auseinander.“
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Meine Damen und Herren: Nach dem Verhältnis von Kastanien und Rübchen, nach den besten
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Kombinationen beider und nach vielem mehr sollen die Veranstaltungen und Formate der heute
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eröffneten Reihe fragen. Und ein Blick auf das so umfangreiche wie klug komponierte
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Programm zeigt, dass bei der Suche nach neuen Rezepten ganz gewiss mehr als Kraut und
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Rüben herauskommen werden. Fachkundig und kritisch wird hier debattiert werden, über die
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deutsche Sprache in der Bildungspolitik, über Sprachmigration und Wissenschaftssprache, über
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Ökonomie und Internet, lernend und streitend, mit Neugier und kritischer Aufmerksamkeit,
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offen und ohne falsche Angst. Und was immer auch herauskommen wird – die Debatten und
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ihre Ergebnisse werden, da bin ich unverdrossen zuversichtlich, so lebendig und lebenskräftig
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sein, wie es unsere wunderbare Sprache schon seit Deutsch 1.0 gewesen ist.

Anmerkung zum Autor:
Heinrich Detering ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Vergleichende Literaturwissenschaft und war zum Zeitpunkt der Rede Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
Aus: Detering, Heinrich: Rede zur Eröffnung der Debattenreihe DEUTSCH 3.0. (03.08.2022).

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