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Basiswissen

Aufgabe 1

Interpretation eines literarischen Textes

Thema:
Rainer Maria Rilke (* 1875 - † 1926): Ein Charakter (Skizze)
Aufgabenstellung:
  • Interpretiere die Erzählung.
Material
Ein Charakter (Skizze) (1896)
Rainer Maria Rilke
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So ein rechter Begräbnistag. Feucht, finster, dickatmig. – Der vierspännige Totenwagen rollte
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schwer über die glatten, runden Pflastersteine, die im Herbstlicht wie kahle Schädel glänzten,
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und seine Räder furchten tief die grauen, schmutzigen Lachen. Die Knechte der
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Leichenbestattungsanstalt trollten mürrisch mit den schwelenden Lichtem nebenher. Ihnen
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folgte die Menge der Leidtragenden. Von den Frauenzimmern zeugte nur eine dichte Reihe
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schwarzer Schleier, die sich wie berußte Spinngewebe zwischen dem Leichenkarren und den
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blanken Cylinderhüten der männlichen Trauergäste ausspannten. – Die vorzüglichste
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Beschäftigung der ganzen, tiefbetrübten Gesellschaft war, Kleider und Hosen vor dem
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aufspritzenden Kot zu hüten; mit rührender Aufmerksamkeit tappten sie nach denjenigen
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Steininseln, die am meisten aus der unermeßlichen Flut aufragten; und auf so manchem
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Gesichte stand der wohlwollende Wunsch zu lesen, der Selige hätte besseres Wetter für seine
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beschwerliche Reise abwarten mögen. – Zwei Herren nur, die in der dritten Reihe gingen,
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unterhielten sich ziemlich rege. An den Mienen konnte man ablesen, daß sie menschlich-milde
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Musterung hielten über des Verstorbenen Taten und Erlebnisse. – Das endliche Ergebnis schien
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recht befriedigend. Sie nickten sich zu mit jenem ernsten Blick, der bei Leichenbegängnissen
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und anderen öffentlichen Festlichkeiten das geheime Erkennungszeichen biederer Männer
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bildet. - Dann strich der eine sich die Falten im Gesichte glatt und raunte mit schwerwiegender
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Bewegung des rechten, schwarzen Handschuhs: „Ein Charakter.“ – Der Nachbar fand diesen
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Ausdruck so treffend, daß er nur imstande war, denselben mit verstärkter Betonung
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nachzusprechen: „Ein Charakter.“ – Und jetzt noch einmal der Biedermannsblick; dabei trat
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der eine so heftig in eine Pfütze, daß sein Hintermann ein unwilliges Gebrumm vernehmen ließ.
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Dann sprach keiner von beiden mehr ein Wort. Es ward still. Nur die Räder des Totenwagens
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knarrten, und die getretnen Lachen glucksten leise. –
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Der ‚Charakter‘ war zur Welt gekommen als Sohn eines Mannes von mäßigem Wohlstande.
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Herr M., der Vater, besaß ein kleines Haus, einen großen Ehrbegriff und ein züchtiges Ehweib .
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Also ziemlich viel.–
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Noch atmete der kleine M. nicht die Carbolluft der Wöchnerinnenstube, als die Frauen,
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welche der jungen Mutter Beiständen, schon untereinander Blicke tauschten und tuschelten: „‘s
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wird ein Bub.“ Sie verfolgten jede Bewegung der Frau, um in immer erregterem Tone ihre
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Vermutung auszusprechen. Und als endlich auf die brennende Frage die lebendige, rotbraune,
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faltige Antwort kam, — da war's ein Bub! - Der kleine M. wuchs und ward wie jeder andere; es
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kam die Zeit, da sich seine weichen Vorderfüßchen in ebensolche Hände umwandelten und da
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die Finger dieser Hände nicht mehr auf den Dielen kribbelten, sondern mit Vorliebe sich in
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Mund und Nase aufhielten. – Darauf folgten die Jahre der Christbäume und Schaustellungen. -
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Der Knabe wurde jede Woche ein- bis zweimal in die eiskalte ‚gute Stube‘ gerufen; dort glotzte
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man ihn an, betastete ihm Haare, Wangen und Kinn, lehrte ihn fein artig Pfoten reichen und
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gegebenenfalls seinen klangvollen Vornamen mit bescheidener Größe aussprechen. Alle Welt
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fand ihn allerliebst, dem Vater, der Mutter, dem oder jenem Oheim , aus dem Gesicht
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geschnitten‘, und wenige schieden ohne die erhabene Weissagung, der Knabe wird sich gewiß
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auch in der Schule seinerzeit sehr brav erweisen. Der Kleine hatte diesen Ausdruck
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hellseherischer Bewunderung oft genug vernommen. Und ohne viel Mühe, ja, ohne eigentlich
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zum Bewußtsein seines Erfolges zu kommen, überstand er die Volksschule, kletterte mit
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rühmenswerter, etwas pedantischer Sicherheit die acht Sprossen der Gymnasialleiter aufwärts
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und ging dann noch ein Jahr in den Hörsälen der Universität ein und aus, worauf er in der Stille
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der väterlichen Schreibstube verloren ging. – Eines Tages munkelte man, der junge M. werde
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die Leitung des Geschäftes aus den Händen seines alternden Erzeugers nehmen, und kurz darauf
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geschah‘s. Der Vater starb bald, und der neue Herr wußte das Ansehen des Hauses zu wahren
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durch strenge Pünktlichkeit und ziemlichen Fleiß. – Oft vernahm der unschlüssige Kaufmann
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aus dem Munde seiner Freunde, daß man sich erzähle, er habe große Unternehmungen vor, und
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staunender Bewunderung voll über den ihm zugeschriebenen Tatendrang begann er wirklich so
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manchen von seinen unterschobenen Plänen auszuführen; und so mancher gelang. So ging Jahr
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um Jahr hin. - Die Verwirklichung der ihm vom Gerede der Menge zugesprochenen Absichten
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hatte seinen Wohlstand bedeutend vergrößert, und nichts war natürlicher, als daß die
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Munkelmänner sich von der bevorstehenden Verlobung M.s manches zuraunten. Das Gerücht
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kam zu seinen Ohren; er wandte von da ab fast unwillkürlich seine Aufmerksamkeit der
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bezeichneten Braut zu, und in wenigen Wochen rieselte das säuselnde „Ja“ der Erwählten in
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den rauschenden Brummbaß des jungen Gatten. Er hatte auch diesmal nicht die Erwartung der
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Leute getäuscht; er war ja doch ein Charakter!
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Längere Zeit planten die guten Bürger in M.s Wohn- und Vaterstadt den Bau eines Theaters.
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Nun weiß jedermann, daß noch kein Bühnenhaus aus gutem Willen, sondern sogar die
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allereinfachsten wenigstens aus – schlechten Brettern errichtet worden sind. Von dem ersteren
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Material besaßen die Leute genug, zur Beschaffung des letzteren fehlte das Geld. Die
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fürsorglichen Stadtväter setzten die gerunzelten Stirnen früh morgens auf, und es wurde übel
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genug vermerkt, wenn einer das Zeichen ernster Würde abends beim Biertisch aufzubehalten
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vergaß.
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Wie ein Frühlingssturm flog da einst das Gerücht durch die Stadt, M. habe beschlossen, das
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zum Baue des Musentempels nötige Geld vorzustrecken. Und wie der Lenzwind die
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Vogelstimmen wachweckt, so rief diese Nachricht allenthalben klangreiches Lob hervor. Eine
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Abordnung des Stadtrates, das tauige Winterapfelgesicht des Herrn Bürgermeisters an der
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Spitze, trat wenige Stunden später in die Stube des Gönners. – Das Oberhaupt dankte, von
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beständigem Freudeglucksen unterbrochen, für das hochherzige Geschenk. M. stand eine Weile
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ratios da. Bald aber erriet er den Sinn dieser Freudebezeugung. Ein leichter Schatten zog über
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seine Stirne. – Schon wollte er sich dieser Zumutung erwehren; dann aber fiel ihm ein, daß er
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durch diese scheinbare Wankelmütigkeit sich und sein Haus schädigen könne, und mit sauersüßem
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Lächeln nahm er den Kontrakt entgegen, auf welchem eine nicht unbedeutende Summe
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verzeichnet stand. So wuchs der Ruhm und Ruf M.s von Jahr zu Jahr. Seit man in ihm nun auch
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den Kunstfreund erkannt hatte, erzählte man bald von dem, bald von jenem einheimischen
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Talent, das durch M.s hochherzige Unterstützung gefördert worden sei.
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Nur ein einzigmal hätte der ‚Charakter‘ die Erwartungen der Leute fast betrogen. Man sprach
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heimlich von einem ‚freudigen Ereignisse‘, das im Hause M. ‚bevorstehe‘. Und neugierige
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Blicke folgten der jungen Frau, sobald sie sich auf der Straße zeigte. Der edle Kaufherr gab sich
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denn auch alle redliche Mühe, die Menge recht bald zufriedenzustellen. Allein diesmal ward
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ihm das Glück untreu. Mit unwilligem Staunen stellten die guten Bürgerinnen fest, daß die M.
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noch immer anschließende Jacken trage und daß da nichts ‚los sein‘ könne. Dann tuschelten
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sie leise und doch vernehmlich genug, eine Franzensbader Kur könne nichts schaden. Und
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siehe da, als Herr M. auch diesmal – wie hätte es anders sein können – die öffentliche Meinung
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zu der seinigen gemacht hatte, hielt sein Weibchen ganz genau nur die vorgeschriebene Zeit
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ein, um an die Stelle der anschließenden Jacken einen Radmantel treten zu lassen. Der
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‚Charakter‘ war gerettet.
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Der Ruf des Ehrenmannes M. war bald über die Marken der Stadt gedrungen. Lang sprach
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man schon von einem Orden. Der bekannte Kaufherr tat jetzt auch die nötigen Schritte, und es
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ward ihm nicht zu schwer, in einigen Monaten mit vollem Knopfloch und leerem Gerede den
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ergebenen Gratulanten seinen innigen Dank zu sagen.
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Auf einer winterlichen Geschäftsreise zog sich M. eine heftige Verkühlung zu, die ihn aufs
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Krankenlager warf. Ein Lungendefekt, von dem sein Arzt schon vor zwanzig Jahren gefaselt
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hatte, machte sich jetzt geltend. Es wurde von Tag zu Tag schlimmer. Seine Frau besuchte ihn
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mit zurückhaltender Teilnahme. Der Kranke will Ruhe, pflegte sie zu sagen, wenn sie im
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gemütlichen Wohnzimmer neben den von Trost überfließenden Nachbarinnen saß.
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Eines Morgens wurde der Schwerkranke aus schwülen Fieberträumen durch lärmende Stimmen
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emporgerissen. Er fuhr auf, starrte irren Blicks umher und fragte mit matter Stimme die
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Barmherzige Schwester, was das solle. Und als diese schwieg und ihm Ruhe gebot, läutete er
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seinen alten Diener herbei und stellte ihm dieselbe Frage.
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Der hielt auch nicht hinterm Berge, kratzte sich den Kopf und polterte: „Mein Gott, das dumme
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Pack sagt alleweil, der Herr ist schon tot; denen soil's der Teufel ausreden ...“ und er schlürfte
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wieder hinaus.
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Der Fiebernde schaute ihm groß nach. –
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Dann legte er sich auf die linke Seite und schlief ein ...
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Er war eben ein Charakter.

Anmerkung zum Autor:
Rainer Maria Rilke war österreichischer Lyriker deutscher und französischer Sprache.
Aus: Nalewski, Horst (Hrsg.): Rainer Maria Rilke. Werke in drei Bänden. Dritter Band. Prosa. Insel-Verlag, Leipzig 1978, S.25-30.

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