Aufgabe 2
Textbezogenes Schreiben: Interpretation literarischer Texte
Thema: Oskar Loerke (* 1884 - † 1941): Die gespiegelte Stadt (1916) Aufgabenstellung:- Interpretiere das Gedicht Die gespiegelte Stadt von Oskar Loerke unter Berücksichtigung des literaturgeschichtlichen Hintergrundes.
1
Der Regen fällt. Berlin durchhallt die kalte
2
Sinflutmusik der Nacht. Der Regen fällt.
3
Noch ein Berlin, steiln auf den Kopf gestellt,
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versinkt umgraut, verschwommen im Asphalte.
5
In steifen Pozessionen stehn Laternen
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Und glühn tief unter sich, und schwarzer Stein
7
Scheint alle Leere, aller Raum zu sein.
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Bis in den Himmels stumpf geballte Fernen
9
Im Stein stehn Bilder, gleich vergessnem Truge
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Magnetisch an die obre Welt geklebt
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Sinds Häuser? Straßen? Leben kommt und schwebt
12
Verkehrt, verwünscht, gleich einem Faschingszuge
13
Die Menschen wollen in den Himmel schwinden
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Hinab, gleich Blättern, vom Asphalt geweht,
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Hinab in sinkend schönem Kreis gedreht
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Sich selig in die Wassertiefe winden
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Doch ihre Sohlen haften an den Steinen
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Ganz oben hält sie traurige Gewalt
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Die leichtre Welt im Spiegel aus Asphalt
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Und die darüber bleiben in der einen
21
Und immer schwerer stürzt und stürzt der Regen.
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Des Abgrunds Himmel brüllen wie ein Meer.
23
Im Nichts den Fuß, hoch geh ich drüber her.
24
Schwermütig kommt das leere Nichts entgegen.
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Die Wagen stehn vermummt in Lederkutten,
26
Wer unterm nassen Leder sitzt, vermummt;
27
Turm tief von einem Hause sehn verstummt
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Zwei nackte tote Knaben, Sandsteinputten:
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Halb graues Chaos schon und nur zu ahnen,
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Sie horchen in die wüste Nacht aus Stein
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Und schreiten Hand in Hand matt aus dem Sein,
32
Der dumpfen Ungewissheit Untertanen.
33
Und ich auch schreite, Knecht des Ungewissen,
34
Die Bilder deutend, jenseits aller Zeit.
35
Voll ungeheurer Traumestraurigkeit
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Umschweben sie im Schlaf noch meine Kissen:
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Die sternenweit entfernten Weiten schollen,
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Die Düsternisse wetterleuchteten,
39
Daß Ängste meine Schläfen feuchteten,
40
Vulkanisch murrend wuchs und wuchs ein Rollen
41
Wie Stalaktiten überm Himmelsmeer,
42
Vulkanisch murrend wuchs und wuchs ein Rollen
Aus: Loerke, Oskar: Die Gedichte. Hg. von Peter Suhrkamp. Frankfurt a. M. 1984, S. 133 f.
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- Das Gedicht Die gespiegelte Stadt von Oskar Loerke ist ein prägnantes Beispiel für die expressionistische Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts. Es ist 1916 als Teil der Edition Die Gedichte im Surhkamp Verlag erschienen.
- In einer Zeit geprägt von Urbanisierung, technologischem Fortschritt und gesellschaftlichen Umbrüchen wird die Großstadt Berlin zur Projektionsfläche für individuelle Ängste, Entfremdung und existenzielle Fragestellungen.
- Das Gedicht thematisiert die Kluft zwischen der erlebten Realität und der surrealen Spiegelung der Stadt. In der regennassen Nacht, in der das lyrische Ich umherirrt, werden realitätsferne Wahrnehmungen sichtbar.
Hauptteil
Formale Analyse
- Die Sprechsituation ist geprägt von einem lyrischen Sprecher, der nachts über die Straßen Berlins wandelt, während ein dichter Regen fällt.
- Diese nächtliche Kulisse, in der der Regen die Stadt reflektiert, schafft nicht nur eine melancholische, sondern auch bedrohliche Atmosphäre. In den Pfützen spiegeln sich die Häuser und Straßen Berlins, was zur Loslösung der Wahrnehmungen von der Realität führt und einen surrealen Eindruck erzeugt (Vgl. V. 1-4).
- Die ersten Verse beschreiben die akustische Kulisse und die visuelle Umgebung, die von Kälte und Lichtbrüchen geprägt ist. Hier wird bereits die Monotonie des Regens durch den Begriff „Sintflutmusik“ (V. 2) betont.
- Der lyrische Sprecher ist in einer Stadt gefangen, die sowohl statisch als auch dynamisch erscheint. Die Struktur des Gedichts ist durchgehend in umarmenden Reimen verfasst, was eine innere Harmonie schafft, während stumpfe Kadenzen in den Paarreimen die Aussagen schwer und drückend erscheinen lassen.
- Die Verwendung des einheitlichen Metrums, meist in fünfhebigen Jamben, wird durch sporadische Abweichungen aufgebrochen, wie in den Versen „Sintflutmusik“ (V. 2) und „Schwermütig“ (V. 24), um dem jeweiligen Begriff Gewicht zu verleihen.
- Diese rhythmischen Variationen verstärken den emotionalen Gehalt der beschriebenen Eindrücke. Die parataktische Struktur und die Wiederholungen, vor allem in den ersten Strophen, unterstreichen das Gefühl der Monotonie und der Bedrohung, während der Wechsel von Enjambements und Zeilenstil zum Ausdruck bringt, wie unberechenbar die Wahrnehmungen des lyrischen Ichs sind.
- Der Satz „Der Regen fällt“ (V. 1, 2) wird zweimal wiederholt, was die Eindringlichkeit und die bedrückende Stimmung verstärkt.
- Die „Sintflutmusik der Nacht“ (V. 2) ist eine Metapher, die den Regen mit einer gewaltigen Flut vergleicht, was die Intensität des Regens und die emotionale Stimmung unterstreicht.
- Die Laternen werden personifiziert, indem sie „steh[e]n“ und „glüh[e]n“ (Z. 5, 6). Dies verleiht der Umgebung eine lebhafte Qualität und hebt die Einsamkeit in der Stadt hervor.
- Der Gegensatz zwischen „Himmel“ (V. 13) und „Asphalt“ (V. 14) (Antithese) wird durch die metaphernreiche Sprache verstärkt, insbesondere in der Darstellung der Menschen, die „in den Himmel schwinden“ (V. 13) wollen.
- Alliterationen wie „Stein stehn“ (V. 9) „sinkend schönem Kreis“ (V. 15) bereichern das Klangbild und verstärken die düstere, bedrückende Atmosphäre des Gedichts.
- Die rhetorische Frage „Sinds Häuser? Straßen?“ (V. 11) mit einem elliptischen Satzbau lässt eine Frage offen, was die Verwirrung und das Unbehagen über das Stadtleben verstärkt.
- Der Regen und die Dunkelheit symbolisieren oft Traurigkeit und Düsternis (Vgl. z. B. V. 18, 24, 42), was die melancholische Stimmung des Gedichts unterstützt.
Inhaltliche Analyse
- In den ersten fünf Strophen wird die düstere und melancholische Atmosphäre der verregneten Stadt entfaltet. Die „kalte Sintflutmusik der Nacht“ (V. 1-2) erzeugt sofort ein Gefühl des Unbehagens und der Traurigkeit. Die regennassen Straßen (Vgl. V. 1 ff.) spiegeln eine emotionale Isolation wider, was die Einsamkeit in der beschriebenen Stadtlandschaft verstärkt.
- Die akustische und visuelle Monotonie des Regens spiegelt die Lebenserfahrungen der Menschen wider, die sich nach einer Leichtigkeit sehnen (Vgl. V. 3, 21). Diese Zeilen verdeutlichen die Entfremdung und das Missverhältnis zwischen äußeren Erscheinungen und innerer Realität, die von Schwere geprägt ist (Vgl. V. 13-14). Die Monotonie des Dauerregens korrespondiert mit dieser Schwere und schafft ein Bild der Trauer über die als gewaltsam empfundene Bindung des Menschen an die realen Gegebenheiten (Vgl. V. 17-18, 23-24).
- In den Strophen sechs bis acht tritt das lyrische Ich in den Vordergrund und offenbart seine persönlichen Eindrücke. Die Wahrnehmungen sind von surrealen Assoziationen geprägt. In den Zeilen „Sinds Häuser? Straßen? Leben kommt und schwebt / Verkehrt, verwünscht, gleich einem Faschingszuge“ (V. 11-12) wird die Unsicherheit des lyrischen Ichs deutlich, das in einen Zustand des Zweifelns gerät. Der Ausdruck „gleich einem Faschingszuge“ (V. 12) vermittelt einen Eindruck von Verwirrung und Unechtsein, indem er die Freude und das Feiern des Karnevals mit dem tristen Stadtleben vergleicht. Die Begriffe „verkehrt“ (V. 12) und „verwünscht“ (V. 12) unterstreichen zusätzlich den surrealen Charakter der Nacht. Das lyrische Ich beginnt, die Grenzen zwischen Realität und Illusion zu hinterfragen. Diese Verschmelzung von Realität und Fantasie zeigt sich in der Beschreibung der Spiegelungen, wie etwa in der Zeile „Die leichtre Welt im Spiegel aus Asphalt“ (V. 19).
- In den letzten Strophen wird die Stimmung zunehmend düsterer. Die Vorahnung eines unheilvollen Endes wird spürbar. Hier wird das Nichts personifiziert, das „leere Nichts“ (V. 24) scheint das lyrische Ich zu bedrohen, was die existenzielle Fragestellung nach dem Sinn des Lebens verstärkt. Diese Bedrohung wird durch das Bild des „Nichts“ als „dumpfe Ungewissheit“ (V. 32) intensiviert.
- Die „Traumestraurigkeit“ (V. 35) und das Bild der „schwermütig[en]“ Leere (V. 24) verdeutlichen die düstere Atmosphäre, in der sich das lyrische Ich verloren fühlt. Loerkes Gedicht spiegelt die charakteristische Ausdrucksweise des Expressionismus wider, in der die Großstadt als Dreh- und Angelpunkt von Ängsten, Isolation und Einsamkeit fungiert.
- Diese emotionale Entfremdung wird durch die düstere und chaotische Darstellung der urbanen Landschaft verstärkt. Die Zerstörung individueller Identität, verursacht durch Anonymität und Kälte, wird stark betont, etwa in den „vermummt[en]“ Gestalten „in Lederkutten“ (V. 25), die in ihrer Anonymität als „Knecht[e] des Ungewissen“ (V. 33) erscheinen.
- Das Gedicht schließt in einer Atmosphäre von Spannung und erstarrter Bedrohlichkeit, die die Zerrissenheit der modernen Existenz widerspiegelt. Die „Stalaktiten überm Himmelsmeer“ (V. 41) symbolisieren eine latente Gefahr, die drohend über der Stadt hängt und das lyrische Ich bedrängt, während die düstere Kulisse und das „vulkanisch[e] [...] Rollen“ (V. 42) die Unruhe und Isolation des Ichs unterstreichen.
- Loerkes Gedicht spiegelt die charakteristische Ausdrucksweise des Expressionismus wider, in der die Großstadt als Dreh- und Angelpunkt von Ängsten, Isolation und Einsamkeit fungiert.
- Der expressionistische Gestus zeigt sich in der Intensität der Sprache und der emotionalen Aufladung seiner Bilder. Die „ungeheure Traumestraurigkeit“ (V. 35) und die „Düsternisse“ (V. 38) verstärken den Eindruck eines verzerrten Blicks auf die Stadt und verdeutlichen das Gefühl von Verlorenheit zur Zeit des Umbruchs.
Schluss
- Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Oskar Loerke in Die gespiegelte Stadt die psychologischen und existenziellen Dimensionen des urbanen Lebens eindrücklich thematisiert.
- Die Wechselwirkungen zwischen Realität und Imagination und die vielfältigen emotionalen Bilder schaffen ein starkes Gefühl der Entfremdung und Orientierungslosigkeit.
- In der Darstellung der gespiegelten Stadt wird das angstvolle Dasein des modernen Menschen und dessen Suche nach Sinn in einer chaotischen Welt sichtbar.
- Loerke gelingt es, die Resonanz der Menschen in einer urbanen Umgebung zu erfassen und zugleich auf die tiefen Fragen der menschlichen Existenz zu verweisen.