Aufgabe 1
Textbezogenes Schreiben: Erörterung literarischer Texte
Thema: Georg Büchner (* 1875 - † 1955): Woyzeck (1929) David G. Richards (* 1935): Georg Büchners Woyzeck. Interpretation und Textgestaltung (1975) Aufgabenstellung:- Der Literaturwissenschaftler David G. Richards stellt in seiner Interpretation des Dramenfragments Woyzeck von Georg Büchner folgende These auf:: „[...] [E]s handelt sich in diesem Stück, wie auch sonst in Büchners Werken, nicht um das Zusammensein der Figuren, sondern um ihr Alleinsein und ihre Einsamkeit.“ (Aus: David G. Richards: Georg Büchners Woyzeck. Interpretation und Textgestaltung. Bonn 1975, S. 21)
- Erörtere diese These zur Figurenkonzeption in Georg Büchners Werken am Beispiel von Marie aus Woyzeck und Lena aus Leonce und Lena. Belege deine Ausführungen an den Dramentexten.
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Einleitung
- In seiner Analyse des Dramenfragments Woyzeck formuliert der Literaturwissenschaftler David G. Richards die These, dass in Büchners Werken weniger das Zusammensein der Figuren, sondern vielmehr ihr Alleinsein und ihre Einsamkeit im Vordergrund stehen. Diese Perspektive bietet einen tiefen Einblick in die Figurenkonzeption von Georg Büchner und eröffnet die Möglichkeit, die Charaktere Marie aus Woyzeck sowie Lena aus Leonce und Lena unter diesem Aspekt zu untersuchen.
- Im Folgenden wird die These Richards sowohl bekräftigend als auch einschränkend analysiert, wobei herausgearbeitet wird, inwieweit das Thema der Einsamkeit in den Charakteren dieser beiden Dramen verankert ist.
Hauptteil
Erläuterung der These
- Laut der These stehen in Büchners Werken die inneren Konflikte, Ängste und das Alleinsein der Figuren im Vordergrund, was eine grundlegende Einsamkeit widerspiegelt.
- Die Figuren sind oft physisch umgeben von anderen, erleben jedoch emotional eine tiefe Isolation, was die These unterstützt, dass das Zusammensein nicht ausschließlich von Bedeutung ist.
- Marie aus Woyzeck zeigt, dass ihre Beziehungen, insbesondere zu Woyzeck, von Unverständnis und Machtlosigkeit geprägt sind, wodurch ihre Einsamkeit verstärkt wird. Doch auch Lena aus Leonce und Lena fühlt sich trotz gesellschaftlicher Verpflichtungen und Beziehungen in ihrem Inneren allein, was die thematisierte Einsamkeit verdeutlicht.
- Die Charakterkonzeption zieht sich durch alle Werke Büchners und verdeutlicht, dass existenzielle Fragen und die Suche nach Identität oft im Alleinsein thematisiert werden.
Figurenkonzeption der Figur Marie aus dem Dramenfragment Woyzeck
Zustimmung- Verhältnis zu anderen Figuren: Maries Beziehungen sind oft durch ein zweckmäßiges Nebeneinander geprägt und weniger von echter emotionaler Verbindung. Dies zeigt sich in ihrem Verhältnis zum Kind, welches von Drohungen gekennzeichnet ist: „[...] still oder er holt dich.“ (S. 14). Ihre Interaktion wirkt mehr wie eine notwendige Pflicht als ein liebevolles Zusammensein.
- Egoistische Handlungsorientierung: In ihren zwischenmenschlichen Beziehungen richtet Marie ihr Handeln stark auf die Erfüllung eigener Wünsche aus, oft ohne auf die Bedürfnisse anderer Rücksicht zu nehmen. Sie benutzt den Spiegel zur Verstärkung ihrer Drohungen gegenüber dem Kind. Dies verdeutlicht ihr inneres Alleinsein: „Das Kind gibt mir einen Stich ins Herz. Fort!“ (S. 30).
- Zweckgemeinschaft mit Woyzeck: Die Beziehung zu Woyzeck wird durch äußere Zwänge wie das Kind und finanzielle Probleme geprägt, was sie zu einer Zweckgemeinschaft ohne tiefere emotionale Bindung macht. Marie zeigt Unverständnis für Woyzeck: „So vergeistert. Er hat sein Kind nicht angesehn.“ (S. 11) und sie führt eine Beziehung, die von einem Mangel an Kommunikation und emotionaler Nähe gekennzeichnet ist.
- Untreue und Rücksichtslosigkeit: Maries Verhalten gegenüber Woyzeck ist von einem Ausleben ihrer eigenen Begierden geprägt, wobei sie keine Rücksicht auf dessen Gefühle nimmt. Ihre Affäre mit dem Tambourmajor wird in Woyzecks Gegenwart deutlich und zeugt von einer symbolischen Vereinigung von Lust und Mangel an echtem Miteinander.
- Innere Konflikte und Schuldgefühle: Marie erlebt Schuldgefühle und innere Konflikte bezüglich ihres Verhaltens. Ihre Aussage: „Ich bin doch ein schlecht Mensch. Ich könnt’ mich erstechen.“ (S. 15) illustriert ihre moralischen Zweifel und lässt erkennen, dass sie sich in einem Zustand der Einsamkeit und inneren Leere befindet.
- Wunsch nach Autonomie: Es ist plausibel, dass Maries Beziehungen zu anderen Figuren durch ihren Wunsch nach Autonomie geprägt sind und nicht einfach als Zeichen von Alleinsein und Einsamkeit deutbar sind. Ihre Kontaktaufnahme mit anderen zeigt einen aktiven Drang nach Nähe und Interaktion (Vgl. Szene 5, 7).
- Emotionale Verbindung zu Woyzeck: Ihre Beziehung zu Woyzeck kann auch als emotionaler Anker gedeutet werden. Beispielhaft ist ihr Bedauern über Woyzecks Fernbleiben: „Der Franz ist nit gekommen, gestern nit, heut nit [...]“ (S. 30). Dies kann als Zeichen einer inneren Verbindung interpretiert werden.
- Intensive Gefühle für Woyzeck: Obwohl die Kommunikation zwischen Marie und Woyzeck schwierig ist, zeigt sie dennoch Sorgen um sein Wohl: „Er schnapp noch über mit den Gedanken.“ (S. 11). Diese Sorge deutet auf eine emotionale Verbundenheit hin, auch wenn diese in der Kommunikation fehlt.
- Affäre als Ausdruck von Freiheit: Maries Affäre mit dem Tambourmajor könnte als Ausleben ihrer Freiheit und nicht unbedingt als eine Zurückweisung von Woyzeck verstanden werden. Dies zeigt, dass sie in der Lage ist, intensive Gefühle zu empfinden und weniger auf Einsamkeit oder Alleinsein abzuzielen.
- Kurzfristiges Glück: Ihr Verhältnis zum Tambourmajor führt zu kurzfristigem Glück und Vergnügen: „Geh’ einmal vor dich hin. – Über die Brust wie ein Stier ...“ (S. 17). Dies könnte als Zeichen für eine Fähigkeit zum Zusammensein und das Empfinden von Freude gewertet werden, was der These der Einsamkeit widerspricht.
Figurenkonzeption der Figur Figur Lena aus dem Drama Leonce und Lena
Zustimmung- Sehnsucht nach wahrer Liebe: Lenas inneres Alleinsein und die Einsamkeit werden durch ihre tiefen Sehnsüchte nach echter Liebe verdeutlicht. Sie äußert: „Oh Gott, ich könnte lieben, warum nicht? Man geht ja so einsam und tastet nach einer Hand, die einen hielte [...]“ (I, 4, S. 58). Diese Worte zeigen ihren Wunsch nach emotionaler Unterstützung und Verbindung.
- Unzufriedenheit und Selbstbestimmtheit: Lena empfindet Unzufriedenheit aufgrund ihres aufgezwungenen Partners und sehnt sich nach Selbstbestimmung. Ihre anfängliche Verzweiflung und Wehrlosigkeit verdeutlichen ihre innere Einsamkeit. Die Flucht dokumentiert ihre Bereitschaft, das Alleinsein aus Gründen der Selbsterhaltung in Kauf zu nehmen.
- Wunsch nach Authentizität: Lenas Sensibilität für die Diskrepanz zwischen ihren inneren Wünschen und der äußeren Realität wird durch ihre Frage verdeutlicht: „Aber warum schlägt man einen Nagel durch zwei Hände, die sich nicht suchten?“ (I, 4, S. 58). Diese Aussage zeigt ihren inneren Konflikt und das Gefühl der Entfremdung in Bezug auf das gesellschaftlich vorgegebene Leben.
- Verzweiflung und Gedanke der Selbsterlösung: Der Vergleich ihrer Zwangsheirat mit der Kreuzigung Jesu zeigt Lenas Verzweiflung und den tiefen inneren Schmerz: „Mein Gott, mein Gott, ist es denn wahr, dass wir uns selbst erlösen müssen mit unserem Schmerz?“ (I, 4, S. 59). Hier wird deutlich, wie stark sie unter dem Mangel an Selbstbestimmung und Autonomie leidet.
- Naturverbundenheit als Flucht: Lena manifestiert ihre Einsamkeit und Gefühlswelt in der Natur, wo sie Erfüllung und Selbstheilung findet: „Sieh, ich wollte, der Rasen wüchse so über mich [...]“ (I, 4, S. 58). Ihre Auffassung von der Natur als Rückzugsort ist ein Zeichen ihrer inneren Einsamkeit und Unzufriedenheit mit sozialen Interaktionen.
- Glaube an die Liebe: Lena sieht die Liebe als Lebensziel und strebt nach selbstgewähltem Zusammensein: „[...] bis die Leichenfrau die Hände auseinandernähme [...]“ (I, 4, S. 58). Dies deutet darauf hin, dass sie trotz ihrer Einsamkeit an die Möglichkeit einer erfüllten Beziehung glaubt.
- Heirat als Erfüllung des Wunsches: Ihre Heirat mit dem maskierten Leonce kann als eine Erfüllung des Wunsches nach Gemeinschaft interpretiert werden, auch wenn sie ihn nicht kennt. Dies zeigt eine aktive Suche nach Verbindung, widerspricht also der Annahme von Einsamkeit.
- Tiefgehende Beziehungen: Lenas Verhältnis zu ihrer Gouvernante zeigt, dass sie tiefgehende Beziehungen anbahnt, die für den Willen nach Nähe und Gemeinschaft sprechen: Die gemeinsame Initiative zur Flucht und das wechselseitige Vertrauensverhältnis (I, 4, S. 58 f.) zeugen von einer emotionalen Verbindung und Unterstützung.
- Gemeinsame Träumereien mit Leonce: Lenas Kommunikation mit Leonce ist nicht durchweg abweisend; sie finden zunächst Gemeinsamkeiten und Annäherungen: „Er war so alt unter seinen blonden Locken.“ (II, 3, S. 66). Dies signalisiert, dass eine Beziehung durchaus möglich ist und die Einsamkeit nicht vorherrschend bleiben muss.
- Naturverbundenheit als Zeichen von Zufriedenheit: Lenas Liebe zur Natur kann nicht nur als Rückzug verstanden werden, sondern auch als Zeichen ihrer Zufriedenheit. Ihre Verbindung zur Natur zeigt, dass sie dort Erfüllung findet, was ihrer Einsamkeit entgegenwirkt, beispielsweise: „O sie [die Welt] ist schön und so weit, so unendlich weit.“ (II, 1, S. 62).
Schluss
- Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass David G. Richards These hinsichtlich der Figurenkonzeption in Büchners Werken, insbesondere im Hinblick auf die Charaktere Marie und Lena, sowohl Bestätigung als auch Einschränkung erfährt.
- Während Marie und Lena in der Tat ein starkes Gefühl von Einsamkeit und Alleinsein verkörpern, ist auch der Wunsch nach Verbindung und emotionalem Austausch in ihrem Handeln deutlich zu erkennen.
- Das Verhältnis zu anderen Figuren muss in der Analyse unbedingt berücksichtigt werden, da es eine komplexe und mitunter ambivalente Dynamik zwischen Einsamkeit und dem Streben nach Gemeinschaft widerspiegelt.
- Somit ist die Erörterung von Richards These nicht nur eine Analyse von Isolation, sondern auch von dem menschlichen Verlangen nach Zugehörigkeit, welches trotz der Herausforderungen immer präsent bleibt.