Aufgabe 3
Textbezogenes Schreiben: Interpretation literarischer Texte
Thema: Franz Kafka (* 1883 - † 1924): Der Schlag ans Hoftor (1931) Juli Zeh (* 1974): Corpus Delicti. Ein Prozess (2009) Aufgabenstellung:- Interpretiere die Erzählung Der Schlag ans Hoftor von Franz Kafka.
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- Vergleiche die Figur des Ich-Erzählers und seine Situation in der Erzählung Der Schlag ans Hoftor mit der Figur Mia Holl und ihrer Situation in Juli Zehs Roman Corpus Delicti. Ein Prozess.
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Es war im Sommer, ein heißer Tag. Ich kam auf dem Nachhauseweg mit meiner
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Schwester an einem Hoftor vorüber. Ich weiß nicht, schlug sie aus Mutwillen ans Tor
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oder aus Zerstreutheit oder drohte sie nur mit der Faust und schlug gar nicht. Hundert
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Schritte weiter an der nach links sich wendenden Landstraße begann das Dorf. Wir
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kannten es nicht, aber gleich nach dem ersten Haus kamen Leute hervor und winkten
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uns, freundschaftlich oder warnend, selbst erschrocken, gebückt vor Schrecken. Sie
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zeigten nach dem Hof an dem wir vorübergekommen waren, und erinnerten uns an
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den Schlag ans Tor. Die Hofbesitzer werden uns verklagen, gleich werde die Unter-
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suchung beginnen. Ich war sehr ruhig und beruhigte auch meine Schwester. Sie hatte
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den Schlag wahrscheinlich gar nicht getan, und hätte sie ihn getan, so wird deswegen
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nirgends auf der Welt ein Beweis geführt. Ich suchte das auch den Leuten um uns
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begreiflich zu machen, sie hörten mich an, enthielten sich aber eines Urteils. Später
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sagten sie, nicht nur meine Schwester, auch ich, als Bruder werde angeklagt werden.
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Ich nickte lächelnd. Alle blickten wir zum Hof zurück, wie man eine ferne Rauchwolke
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beobachtet und auf die Flamme wartet. Und wirklich, bald sahen wir Reiter ins weit
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offene Hoftor einreiten. Staub erhob sich, verhüllte alles, nur die Spitzen der hohen
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Lanzen blickten. Und kaum war die Truppe im Hof verschwunden, schien sie gleich
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die Pferde gewendet zu haben und war auf dem Wege zu uns. Ich drängte meine
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Schwester fort, ich werde alles allein ins Reine bringen. Sie weigerte sich, mich allein
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zu lassen. Ich sagte, sie solle sich aber wenigstens umkleiden, um in einem besseren
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Kleid vor die Herren zu treten. Endlich folgte sie und machte sich auf den langen Weg
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nach Hause. Schon waren die Reiter bei uns, noch von den Pferden herab fragten sie
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nach meiner Schwester. Sie ist augenblicklich nicht hier, wurde ängstlich geantwor-
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tet, werde aber später kommen. Die Antwort wurde fast gleichgültig aufgenommen;
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wichtig schien vor allem, daß sie mich gefunden hatten. Es waren hauptsächlich zwei
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Herren, der Richter, ein junger lebhafter Mann und sein stiller Gehilfe, der Aßmann
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genannt wurde. Ich wurde aufgefordert in die Bauernstube einzutreten. Langsam,
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den Kopf wiegend, an den Hosenträgern rückend, setzte ich mich unter den scharfen
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Blicken der Herren in Gang. Noch glaubte ich fast, ein Wort werde genügen, um mich,
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den Städter, sogar noch unter Ehren, aus diesem Bauernvolk zu befreien. Aber als ich
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die Schwelle der Stube überschritten hatte, sagte der Richter, der vorgesprungen war
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und mich schon erwartete: Dieser Mann tut mir leid. Es war aber über allem Zweifel,
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daß er damit nicht meinen gegenwärtigen Zustand meinte, sondern das, was mit mir
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geschehen würde. Die Stube sah einer Gefängniszelle ähnlicher als einer Bauern-
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stube. Große Steinfließen, dunkel, ganz kahle Wand, irgendwo eingemauert ein eiser-
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ner Ring, in der Mitte etwas, das halb Pritsche, halb Operationstisch war.
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Könnte ich noch andere Luft schmecken als die des Gefängnisses? Das ist die große
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Frage oder vielmehr, sie wäre es, wenn ich noch Aussicht auf Entlassung hätte.
Aus: Franz Kafka: Beim Bau der Chinesischen Mauer. Ungedruckte Erzählungen und Prosa aus dem Nachlaß. Hrsg. von Max Brod und Hans Joachim Schoeps. Berlin: Gustav Kiepenhauer Verlag 1931, S. 51-53. (Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen der Textquelle.)
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Erste Teilaufgabe
- Die Kurzgeschichte Der Schlag ans Hoftor von Franz Kafka entstand im Jahr 1917, wurde jedoch erst 1931 veröffentlicht und handelt von einem mysteriösen Ereignis.
- Das Geschehene wird aus der Sicht eines Ich-Erzählers geschildert, der sich mit seiner Schwester auf dem Nachhauseweg befindet.
- Kafka thematisiert in diesem Werk Themen wie die Ohnmacht des Individuums, das Absurde und Unheimliche sowie die rechtliche Unklarheit.
Hauptteil
Formale Analyse- In der Kurzgeschichte spricht ein Ich-Erzähler in einem personalen Erzählstil. Diese Erzählweise sorgt für Unmittelbarkeit und Authentizität. Gleichzeitig wird der Erzählerbericht in prägnanter und sachlich-nüchterner Sprache wiedergegeben. Es fällt auf, dass die Schilderung der äußeren Begebenheiten deutlich dominiert und die Leser*innen der Kurzgeschichte nur punktuell Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt des Ich-Erzählers erhalten (z. B. Z. 2 f., Z. 9 f., Z. 23 f., Z. 29 f., Z. 32-34, Z. 37 f.).
- Beim Erzähler schwingt eine gewisse Unsicherheit darüber, ob die Tat überhaupt stattgefunden hat, deutlich mit. Durch den geschickten Einsatz des Konjunktivs „hätte“ (Z. 10) und des Adverbs „wahrscheinlich“ wird die Unklarheit um die Realität und Faktizität der Handlung betont. Auch die polysyndetische Reihe von möglichen Motiven und Überlegungen trägt zur Atmosphäre des Zweifelns bei (Vgl. Z. 2-3). Ebenfalls hebt der Erzähler die Unerheblichkeit der Tat durch die beinahe lächerliche Darstellung einer Verurteilung mittels des weiteren Adverbs „fast“ (Z. 29) hervor.
- Die Inszenierung von Raum und Zeit erfolgt in der Kurzgeschichte durch die abstrakte Verortung der Handlung jenseits einer eindeutig historisch festgelegten Realität. Die Szenerie wird als ländlich, abgelegen und von fremden, strengen Gesetzmäßigkeiten beherrscht, beschrieben. Dies bildet einen starken Kontrast zum Selbstverständnis des Ich-Erzählers als „Städter“ (Z. 30), was auf eine soziale und kulturelle Distanz hinweist. Die Handlung wird mittels zeitraffendem Erzählen schnell vorangetrieben, wodurch die Leser*innen die Dringlichkeit, abzeichnende Gefahr, Spannung und den unmittelbaren Ernst der Ereignisse spüren. Diese Erzähltechnik erzeugt eine Atmosphäre der Unausweichlichkeit, da der Erzähler in einem raschen Ablauf von Ereignissen gefangen ist.
- Außerdem verzichtet Kafka weitgehend auf die direkte Rede seiner Figuren sowie auf die Wiedergabe der Figurenrede als Redebericht. Die an einer Stelle verwendete direkte Rede („Dieser Mann tut mir leid.“, Z. 32) wird deshalb besonders hervorgehoben. Das vermeintliche Mitgefühl des Richters könnte auf das zuvor stehende Leid und die ausweglose Situation hindeuten.
- Trotz Kafkas prägnantem Sprachstil, für den er in seinen Werken äußerst bekannt ist, arbeitet der Autor mit einigen rhetorischen Mitteln, die zur Schaffung einer beklemmenden und düsteren Stimmung in seiner Kurzgeschichte beitragen.
- Der eigentliche Schlag ans Hoftor könnte symbolische Bedeutung haben, da die Handlung als Katalysator für die nachfolgenden unvorhersehbaren, katastrophalen Konsequenzen fungiert. Das Hoftor könnte repräsentativ für die Schranken der etablierten Machtstruktur stehen, die durch die unbedachte Handlung des Schlagens in Bewegung gesetzt werden.
- Stilistische Elemente wie asyndetische Strukturen (z. B. Z. 6, Z. 15 ff.) tragen dazu bei, das Gefühl der Ohnmacht und Bedrohung zu betonen. Die asyndetische Aufzählung des Gefängnisinventars in der Bauernstube erfolgt nüchtern und detailliert. Das erste Beispiel verstärkt die emotionale Intensität der Stelle sogar noch zusätzlich durch die darin enthaltene Klimax („warnend, selbst erschrocken, gebückt vor Schrecken“, Z. 6).
- Der bildhafte Vergleich „wie man eine Rauchwolke beobachtet und auf die Flamme wartet“ (Z. 14 f.) schafft eine Atmosphäre des gespannten Wartens und der Unsicherheit.
- Die häufig auftauchenden Temporaladverbien (z. B. „gleich“, Z. 15, 17; „bald“, V. 15; „[s]chon“, V. 22) vermitteln den Eindruck, dass sich die Ereignisse schnell und unaufhaltsam entfalten. Die fortschreitende Veränderung und das Näherrücken der unvermeidlichen Strafe des Erzählers wird durch das Adverb „noch“ (Z. 29) zusätzlich betont.
- Die beklemmende, aussichtslose Atmosphäre und der Freiheitsverlust des Erzählers werden durch den Irrealis (Vgl. Z. 37-38) und die rhetorische Frage (vgl. Z. 37) verstärkt sowie durch die Synästhesie „Luft schmecken“ (Z. 37) und eine Correctio (Vgl. Z. 38) in der letzten Zeile zusätzlich betont.
- Die Kurzgeschichte beginnt mit dem belanglosen Akt, dass die Schwester des Erzählers aus Motiven wie „Zerstreutheit“ (Z. 3) oder „Mutwillen“ (Z. 2) gegen ein Hoftor schlägt, welches die beiden an einem heißen Tag passieren (Vgl. Z. 1-3). Daraufhin weisen sie Dorfbewohner eines unbekannten Dorfes auf den vermeintlichen Vorfall am Hoftor hin und warnen sie (Vgl. Z. 5-6). Der Bruder versucht seine Schwester jedoch damit zu beruhigen, dass keinerlei Beweise für den Vorfall vorhanden sind (Vgl. Z. 9-11).
- Die Bewohner kündigen dem Geschwisterpaar jedoch an, dass die Hofbesitzer sie verklagen werden (Vgl. Z. 8-9; 12-13). Daraufhin erscheinen Reiter, die den Vorfall gerichtlich untersuchen (Vgl. Z. 15 ff.). Der Erzähler möchte alle Schuld auf sich nehmen. Sich selbst beschreibt der Ich-Erzähler als „ruhig“ (Z. 9) und souverän.
- Die Reiter, angeführt vom Richter und seinem Gehilfen Aßman, fragen nach der Schwester des Erzählers (Vgl. Z. 22-23), sehen den Ich-Erzähler jedoch als Hauptverdächtigen an (Vgl. Z. 24-25). Von ihnen wird der Erzähler aufgefordert, die Bauernstube zu betreten (Vgl. Z. 27), die einem Gefängnis ähnelt und mit Elementen aus Folterkammern ausgestattet ist (Vgl. Z. 35-36). Der Protagonist hofft zwar auf eine Befreiung, gleichzeitig erkennt er seine aussichtslose Lage jedoch an (Vgl. Z. 29 ff.). Die Resignation und Unausweichlichkeit seiner Misere wird durch die ihn bemitleidende Aussage des Richters (Vgl. Z. 32) verstärkt. Die Geschichte endet mit der Frage nach der Luft des Gefängnisses (Vgl. Z. 37), die auf eine Bestrafung und dessen Unvermeidbarkeit hinweisen könnte.
- Insgesamt zeichnet die Kurzgeschichte ein Bild der Bedrohung, der möglicherweise ungerechten und willkürlichen Bestrafung sowie des Ausgeliefertseins des Erzählers. Der kafkaeske Stil wird durch die Absurdität der Handlung verstärkt.
- Die Hoffnungslosigkeit des Ich-Erzählers wird in seiner Machtlosigkeit gegenüber einer unbekannten Instanz und deren unklaren Gesetze deutlich. Kafka konstatiert ein Leben, das von der jederzeit möglichen und unerklärlichen Einmischung des Unbekannten geprägt ist, und unterstreicht damit die fragile Natur der menschlichen Existenz.
- Im Hinblick auf die Gestaltung der im Text auftretenden Figuren fällt auf, dass die Figuren insgesamt typisiert und anonymisiert sind. Aus der Sicht des Erzählers erfolgen lediglich knappe Beschreibungen des Geschehenen und des Figurenprofils der Nebenfiguren.
- Der Ich-Erzähler wird als namenloser Bruder in die Geschichte eingeführt und nennt sich selbst „Städter“ (Z. 30). Gegenüber seiner Schwester wird er als fürsorglich und vertrauensvoll dargestellt, was durch die Infragestellung böser Absichten hinter dem Schlag ans Hoftor (Vgl. Z. 2 f., 9 f., 18 f.) deutlich wird. Trotz seines ruhigen Verhaltens angesichts der Warnungen der Dorfbewohner (Vgl. Z. 9) und seiner klaren Vorstellung von Recht und Unrecht bleibt er gelassen, begründet die Unerheblichkeit der Tat in sachlicher Form (Vgl. Z. 9-11) und übernimmt die Verantwortung, den Vorfall zu klären (Vgl. 19). Er zeichnet sich jedoch auch durch eine gewisse Ambivalenz aus, da er einerseits Herablassung gegenüber den Dorfbewohnern zeigt (Vgl. Z. 29 f.), andererseits aber passiv und unterwürfig gegenüber den Reitern und später auch dem Richter agiert (Vgl. Z. 27-29). Statt vehement zu widersprechen, stellt sich beim Erzähler eine tiefe Resignation ein, da er seine ausweglose Lage erkennt (Vgl. Z. 32-34).
- Die Beweggründe der Schwester des Protagonisten bleiben undurchsichtig. Laut des Erzählers könnten sie möglicherweise auf Unbedachtheit und Provokationslust zurückzuführen sein (Vgl. Z. 2 f.). Durch die Warnungen der Dorfbewohner scheint sie jedoch besorgt zu sein (Vgl. Z. 9). Ihre Handlungen deuten darauf hin, dass sie sich der möglichen Folgen bewusst und bereit ist, den Anweisungen ihres Bruders zu folgen und nach Hause zu gehen (Vgl. Z. 21 f.), um unangenehmen Konsequenzen zu entgehen. Auch in ihrer anfänglichen Weigerung, ihn alleine zu lassen (Vgl. Z. 19 f.), zeigt sich die Zuneigung zu ihrem Bruder.
- Die Dorfbewohner erscheinen als homogene Masse, alarmiert und wachsam, jedoch gleichzeitig angepasst und durch die Herrschaft und Unterwerfung deutlich verängstigt. Das Verhalten der Dorfbewohner wird durch den Erzähler als ambivalent wahrgenommen, zeitweise wird es als freundlich interpretiert (Vgl. Z. 5 f.). Insgesamt kann es jedoch als passiv wahrgenommen werden, da sie nichts gegen die repressive Behandlung des Erzählers und seiner Schwester tun.
- Die Reiter, anfangs als homogene Masse erscheinend und mit Lanzen ausgestattet (Vgl. Z. 16 f.), manifestieren sich als bedrohliche, zielstrebige Gruppe, die durch ihre Schnelligkeit und das dominante Reiten allen anderen Figuren uneingeschränkt überlegen sind (Z. 15-17, 22). Diese Überlegenheit wird durch die Behandlung anderer von oben herab und symbolisch durch die erhöhte Position auf dem Pferd betont (Vgl. Z. 22).
- Später werden zwei der Reiter als Richter und sein Gehilfe identifiziert. Die beiden Führungsfiguren vermitteln eine klare Vorstellung von absoluter Macht und Kontrolle. Der Richter wird als dynamisch charakterisiert (Z. 26, 31 f.). Sein Verhalten ist zynisch, demütigend und einschüchternd, insbesondere durch seine scheinbare Mitleidsbekundung (Vgl. Z. 32). Weiterhin degradiert er den Ich-Erzähler. Die Worte des Richters sind apodiktisch und tragen eine performative Sprechhandlung, die einen unwiderruflichen und unmittelbaren Einfluss auf die Situation haben.
Fazit
- Der Text Der Schlag ans Hoftor von Franz Kafka stellt das menschliche Leben als eine Situation dar, in der man ständig der Möglichkeit eines plötzlichen und unerklärlichen Eingriffs ausgeliefert ist.
- Das Gefühl der Unsicherheit, Bedrohung und des Ausgeliefertseins sowie die allgemein beklemmende und verwirrende Situation sind allesamt typische Merkmale und Elemente kafkaesker Literatur.
Zweite Teilaufgabe
Überleitung
- Auch die Autorin Juli Zeh konstatiert in ihrem Werk Corpus Delicti. Ein Prozess., ein dystopischer Zukunftsroman aus dem Jahr 2009, die Themen gesellschaftlicher Druck und Konformität, Individualrechte und Widerstand. Ihr Roman spielt in der Mitte des 21. Jahrhunderts in einem Überwachungsstaat. Die als unfehlbar angesehene Gesundheitsmethode verfolgt das strikte Ziel, allen Bürgern ein gesundes und langes Leben zu ermöglichen, schränkt die Gesellschaft dabei jedoch stark in ihrem Handeln ein. Die Protagonistin Mia Holl kritisiert diese Regeln und Strukturen und leistet Widerstand gegen das gesamte Gesellschaftssystem mit seiner Gesundheitsdiktatur.
- Im Folgenden soll die Figur des Ich-Erzählers und seine Situation in der Erzählung Der Schlag ans Hoftor mit der Figur Mia Holl und ihrer Situation in Juli Zehs Roman Corpus Delicti. Ein Prozess. hinsichtlich ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschiede verglichen werden.
Hauptteil
Gemeinsamkeiten- Sowohl der Ich-Erzähler als auch Mia Holl erleben Konflikte mit dem System, die durch verschiedene Auslöser hervorgerufen werden. In beiden Texten werden die Hauptfiguren mit Anschuldigungen konfrontiert, die auf den ersten Blick unerklärlich erscheinen. Der Ich-Erzähler wird wegen eines belanglosen Schlags an ein Hoftor beschuldigt, während Mia Holl, aufgrund ihrer Trauer für ihren Bruder Moritz für einen Verstoß gegen die Vorschriften des Gesundheitsregimes angeklagt wird.
- Die Handlungsmotivation basiert sowohl in Zehs Roman als auch in Kafkas Kurzgeschichte auf einer liebevollen und loyalen Geschwisterbeziehung. Das Bestreben des Ich-Erzählers, seine Schwester vor jeglichen Konsequenzen zu bewahren, entspringt der Liebe und Loyalität, die er ihr entgegenbringt. Das Verantwortungsgefühl treibt ihn an, sich für ihre Unschuld einzusetzen. Mia Holl legt ein öffentliches Bekenntnis zu ihrem Bruder Moritz und dessen Überzeugungen ab. Damit setzt sie sich dafür ein, die Verbindung zu ihm offen anzuerkennen und sich solidarisch mit seinen Ansichten zu zeigen, selbst wenn dies gesellschaftliche Konsequenzen haben könnte. In beiden Werken geht die Geschwisterliebe über gesellschaftliche Erwartungen und Normen hinaus.
- Den Hauptfiguren ist außerdem gemein, dass sie sich gegenüber einer absoluten Macht ausgeliefert und machtlos fühlen sowie über ihre eigene Situation wenig Kontrolle haben. Dementsprechend erleben beide auch eine erhebliche Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit.
- Beide Systeme sind undurchschaubar und zeichnen sich durch eine gewisse Willkür aus, da die genauen Gründe für die Anklage jeweils nicht oder nicht ausreichend transparent gemacht werden und es an klaren Rechtfertigungen mangelt.
- Sowohl bei Franz Kafka als auch bei Juli Zeh betont die jeweilige Situation die Thematik der Inszenierung. Bei Zeh dient sie als Instrument der Manipulation in einer dystopischen Gesellschaft und bei Kafka als Mittel der Kontrolle und Machterhaltung einer kleinen Dorfgemeinschaft. Nach der harmlosen Handlung am Hoftor im Fall des Ich-Erzählers entwickelt sich die Gefangennahme zu einem scheinbar unausweichlichen Ereignis. Die Ankündigung durch die Bauern stellt den ersten Schritt in einer inszenierten Abfolge dar. Diese Darstellung kulminiert in der Mitgefühlsbekundung als eine Art Vorverurteilung des vermeintlich neutralen Richters beim Eintritt in die Bauernstube und dient dazu, den Anschein von Ordnung und vermeintlichem Recht zu bewahren. Im Kontext von Mia Holl wird die künstliche Inszenierung ihres Prozesses genutzt, um die Methode zu retten. Die konstruierte Anklage wegen des fingierten Vorwurfs, eine terroristische Vereinigung zu führen, dient als Mittel zur Wahrung der Machterhaltung. Die Inszenierung verdeutlicht die Manipulation des Systems zu politischen Zwecken und unterstreicht, wie es bewusst Machtinstrumente einsetzt, um die Illusion von Normalität aufrechtzuerhalten.
- Weiterhin gibt es eine Gemeinsamkeit bezüglich der Kontrastierung der Geschwister mit einer sich der Macht anpassenden Figurengruppe. In Der Schlag ans Hoftor stehen die Dorfbewohner für die Figurengruppe, die sich der absoluten Macht des Systems anpasst. Die Dorfbewohner neigen dazu, sich den Machtstrukturen zu unterwerfen und zeigen keine Bereitschaft, gegen Handlungen vorzugehen, die sich gegen den Ich-Erzähler richten. Mia Holl wird mit den Figuren im Wächterhaus, die sich strikt an die Normen und Vorschriften des Gesundheitsstaates halten, konfrontiert. Damit betonen beide Autor*innen die Diskrepanz zwischen den Geschwistern, die sich durch eine enge Bindung zueinander auszeichnen und ihre eigenen Überzeugen pflegen, und den Figurengruppen, die sich angepasst verhalten und sich dem System unterwerfen.
- Zuletzt thematisieren beide Werke die Schwierigkeit der Protagonist*innen, sich den Zwängen der herrschenden totalitären Systeme zu entziehen. In Der Schlag ans Hoftor wird die Ausweglosigkeit der Situation des Ich-Erzählers durch die physische Gefangenschaft und beklemmende Atmosphäre in der gefängnisähnlichen Bauernstube deutlich. Ohne klare Begründung für seine Verurteilung oder Hoffnung auf eine mögliche Freilassung ist der Protagonist in diesem düsteren Raum gefangen. Mias Begnadigung in Corpus Delicti kann nicht als echte Rettung gedeutet werden, sondern fungiert vielmehr als Zweck, um die Protagonistin vor einer möglichen Stilisierung zur Märtyrerin zu bewahren. Dahinter versteckt sich die psychologische Kontrolle und Resozialisierung im System. Mia verliert ihre gewonnene Freiheit und der scheinbare Erfolg wird zunichtegemacht.
- Der Ich-Erzähler in Kafkas Werk zeigt eine passive Haltung gegenüber der unbekannten Instanz, die die absolute Macht über ihn hat. Ohne Widerstand oder aktive Auseinandersetzung mit dem Urteil nimmt er sein Schicksal resignierend und hilflos hin. Zu Beginn akzeptiert Mia Holl noch die bestehenden Regeln ohne einen offensichtlichen Wunsch nach Widerstand. Im Verlauf des Werks setzt sich die Protagonistin jedoch kritisch mit der Methode auseinander, insbesondere im Zusammenhang mit dem Urteil ihres Bruders. Anders als beim Ich-Erzähler kommt es zu einer aktiven öffentlichen Bekämpfung der Methode ihrerseits.
- Außerdem bleibt bei Kafka die machtausübende Instanz unklar. Es herrscht Ungewissheit und Rätselhaftigkeit bezüglich der Identität der Macht. In Corpus Delicti wird das System hingegen detailliert beschrieben. Das Staatssystem der Methode und die dazugehörigen Autoritäten sind identifizierbar.
- Mit dem letzten Punkt geht ebenfalls einher, dass nicht nur die alleinige Instanz, sondern das gesamte System in Kafkas Kurzgeschichte undurchschaubar bleibt und irrational dargestellt wird. Kafkaeske Elemente der Irritation und des Unfassbaren prägen das Geschehen deutlich. Juli Zeh porträtiert hingegen ein in sich stimmiges, logisches und damit auch deutlich realistischeres System. Die dystopische Gesellschaft und ihre Systemstruktur werden deutlich beschrieben.
- Weiterhin wird der Ich-Erzähler in Der Schlag ans Hoftor mit seinem Konflikt alleine gelassen und erhält nicht wie Mia Holl Unterstützung durch andere Figuren. In Corpus Delicti ist es bspw. Rosentreter, der Mias Einstellungen und Überzeugungen weitgehend teilt.
- Ein letzter Unterschied liegt darin, dass Kafkas Kurzgeschichte eine zeitliche Erhabenheit aufweist, bei der die erzählte Welt von einer Zeitlosigkeit gezeichnet ist. Die erzählte Welt in Corpus Delicti wird hingegen in naher Zukunft situiert, wobei die Gesellschaft auf einem imaginierten zukünftigen Entwicklungsstand basiert, der Züge unserer gegenwärtigen Gesellschaft aufweist.
Schluss
- In beiden Werken finden Leser*innen die literarische Darstellung einer unmittelbaren und existenziellen Konfrontation mit einem totalitären und repressiven System, dessen Funktionsweise für sie unverständlich bleibt. Die Protagonist*innen sind ihrem jeweiligen System gegenüber völlig ausgeliefert.
- Das hat sowohl bei Franz Kafka als auch Juli Zeh zur Folge, dass die Protagonist*innen an ihren moralischen Konflikten scheitern, weil sie dazu gezwungen werden, entgegen ihrer eigenen Überzeugungen zu handeln und ihr eigener Handlungsspielraum stark begrenzt bzw. beinahe gar nicht vorhanden ist. Die existenzielle Belastung durch das totalitäre System führt in beiden Werken zu einem Niedergang der Figuren.
- Die Erörterung macht jedoch deutlich, dass sich die beiden Protagonist*innen bspw. in Bezug auf ihre Haltung und die Akzeptanz ihres Urteils stark unterscheiden. Die zwei Werke verfolgen unterschiedliche Welten und Systemkritiken.