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Basiswissen

Aufgabe 4

Materialgestützes Verfassen argumentierender Texte

Thema:
Ist das Lesen von literarischen Büchern als besondere Kulturtechnik im digitalen Zeitalter noch relevant?
Aufgabenstellung:
  • Deine Schule will sich an einer bundesweiten Lese-Offensive beteiligen, sie veranstaltet dafür eine Lesewoche, in der Erzählungen und Romane gelesen werden.
  • Das Redaktionsteam der Schulzeitung bittet die Schülerschaft des Abiturjahrgangs um argumentative Beiträge zum Thema: Ist das Lesen von literarischen Büchern als besondere Kulturtechnik im digitalen Zeitalter noch relevant?
  • Verfasse für die Schulzeitung einen argumentativen Beitrag, in dem du zu der strittigen Frage Stellung nimmst.
  • Nutze für deine Argumentation die vorliegenden Materialien 1-8 und eigene Kenntnisse und Erfahrungen.
  • Formuliere eine geeignete Überschrift.
  • Dein argumentativer Beitrag sollte etwa 800-1000 Wörter umfassen.
  • Verweise auf die Materialien erfolgen nur unter Angabe des Namens der Autorin oder des Autors und ggf. des Titels.
Material 1
Karikatur von Schwarwel (2010)
deutsch sh abi 23 schwarwel
Aus: Cartoon, Schwarwel (2010): Cartoon, Schwarwel (03.12.2022)
Material 2
Kleine Genealogie des Lesens als kulturelle Praxis (2020, Auszug)
Andreas Reckwitz
Andreas Reckwitz zeigt in seinem Text die Geschichte des Lesens auf, der Auszug bezieht sich auf die Entwicklung des modernen Lesens im 18. Jahrhundert und auf das Lesen in der digitalen Welt heute.
1
Erstens ist die Relevanz des Lesens (von Büchern, Zeitungen, Zeitschriften) nun
2
eng mit den aufklärerischen Idealen der Bildung und der Mündigkeit verknüpft.
3
Erst als lesendes soll das Subjekt zu einem weltkundigen Subjekt werden, das
4
informiert ist, Zusammenhänge begreift, aber auch Empathie und
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Empfindungsfähigkeit entwickelt. Die Moderne geht grundsätzlich von einer
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„Lesbarkeit der Welt“ (Blumenberg) aus: Die Welt lässt sich in ihren
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Zusammenhängen kognitiv begreifen, und das Lesen von nicht fiktionalen und
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fiktionalen Texten erscheint dafür ein unabdingbarer Modus zu sein. Die Welt soll
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im modernen Verständnis objektiviert, das heißt zu einem Gegenstand der
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Beobachtung und Reflexion werden, und die Texte sind Instrumente dieser
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Objektivierung. Zugleich sind diese selbst objektivierte Entitäten, zu denen man
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im Lesen auf kritische Distanz gehen kann. Sie liefern die Voraussetzung für die
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Ausbildung einer modernen politischen und kulturellen Öffentlichkeit, deren
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Debatten in der Regel im Medium der Schriftlichkeit erfolgen.
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Zweitens ist das moderne Lesen als Praxis ein extensiv-hermeneutisches und
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ein konzentriertes Lesen. [...] Zum Modell wird nun der stille, fokussierte Leser
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(in der Bibliothek, im Lesezimmer etc.), der keine Ablenkung zulässt und dessen
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Aufmerksamkeit entsprechend geschult ist. Erst mit dieser
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Aufmerksamkeitsfokussierung wird eine Immersion in den Text möglich, die im
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mentalen Strom der Lesenden eine argumentative oder narrative ‚eigene Welt‘
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lebendig werden lässt. Später wird man dies deep reading nennen. [...]
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Drittens ist für das moderne Lesen zentral, dass durch das Lesen eine ‚Innenwelt‘
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des Subjekts gefördert wird, das heißt mentale, aber auch leibliche Akte
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intensiviert werden: Reflexion, Erinnerung, Imagination, Selbstbefragung,
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emotionale Reaktionen. Das Lesen ermöglicht dem Subjekt damit eine
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Psychologisierung doppelter Art: ein Training im Verständnis der psychischen
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Welt der Anderen (die in den Büchern zum Thema wird) und der eigenen
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‚inneren‘ Welt. Moderne Subjektideale der Selbstverantwortung und
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Selbstentfaltung setzen entsprechend Leser voraus, die sich in der Ausbildung
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der Innenwelt trainiert haben. [...]
31
Dies ändert sich mit der digitalen Revolution in einschneidender Weise.
32
[...] Entscheidend ist, dass die digitalen Technologien keineswegs bedeuten, dass
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‚nicht mehr gelesen wird‘, sondern dass nun anders gelesen wird, das heißt, dass
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sich das Lesen als Praktik und damit auch deren Subjektivierungseffekte
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wandeln. Vereinfacht gesagt, verläuft der Wandel vom deep reading zum hyper
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reading. Mit der digitalen Revolution, dem Computer, dem Internet und den
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mobilen Endgeräten wie dem Smartphone wälzt sich das Mensch-Welt-Verhältnis
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medientechnologisch tiefgreifend um. Die Merkmale der neuen Medialität sind
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bekannt: Die digitalen Medien nehmen nach Art eines Hypermediums die alten
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Medien der Schrift und die von Bild und Ton in sich auf. Sie alle sind
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digitalisierbar. Im Internet werden textuelle und visuell-auditive Elemente daher
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untrennbar miteinander verknüpft. Dies bedeutet auf der Ebene der
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Rezeptionspraktiken jedoch: Praktiken des Lesens, des Betrachtens und des
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Hörens sind nun nicht mehr voneinander separiert, sondern ständig miteinander
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verwoben.
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Kurz gesagt: Auf Facebook, Instagram oder einem Newsfeed liest man Texte und
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Nachrichten, schaut Videos und Fotos und nebenher wird ein Computerspiel
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gespielt. Das digitale Subjekt übt sich damit im Multitasking, wobei das Lesen
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nur eine Aktivität unter mehreren ist. [...]
50
Die Digitalisierung verändert somit die Praxis des Lesens. Wie empirische
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Untersuchungen zeigen, hat es bei den Digital Natives häufig nicht mehr die
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Form des deep reading, sondern des hyper reading. Beim Lesen geht es nun
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nicht mehr um die Immersion in einen Text, sondern um den zügigen Erwerb von
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Informationen. Texte werden daher nicht nur äußerst schnell gelesen, sondern
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häufig ‚quergelesen‘, das heißt auf der Suche nach Kerninformationen
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stichprobenartig zur Kenntnis genommen. Es ist nicht nur ein kulturkritischer
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Topos, sondern ein messbarer Tatbestand, dass die Aufmerksamkeitsspanne, in
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der die Leser konzentriert einem Text folgen, kleiner wird. Umgekehrt wird der
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Wunsch nach Abwechslung stärker, der Wunsch, auf immer neue und andere
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Weise stimuliert zu werden. Das Lesen auf einem Smartphone oder Tablet, das
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beständig andere mediale Offerten bietet, fördert diese Haltung.
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Für die Praxis des Lesens in der digitalen Kultur ist damit eine paradoxe
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Doppelstruktur kennzeichnend: Einerseits findet eine Ausweitung des Lesens
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statt, das heißt eine Integration von Texten in die Alltagswelt in einem Maße, wie
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es für die Kulturgeschichte einzigartig ist. Die ständige Verfügbarkeit der
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Smartphones und die Social-Media-Plattformen führen dazu, dass die Subjekte
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immer wieder kurze Lesesequenzen (und im Übrigen auch Schreibsequenzen) in
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ihren Alltag integrieren. Während die Theoretiker der audiovisuellen
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Medienrevolution den Niedergang des Lesens und den Siegeszug des Bildes
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prophezeiten, erweist sich dies mit der digitalen Revolution als ein vorschnelles
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Urteil: Gelesen wird in enormem Umfang. Auf der anderen Seite findet aber auch
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eine Ausdünnung des Lesens statt: Das hyper reading ist ‚flacher‘ und auf
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schnelle Information aus, die Aufmerksamkeit flüchtiger. Mediensoziologen
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weisen daher darauf hin, dass die Genres der klassischen Moderne – die langen
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Romane und philosophischen Traktate – gar nicht mehr zum spätmodernen
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Lesesubjekt ‚passen‘, das sich daher auch häufig von ihnen abwendet: Sie
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erscheinen langweilig und langatmig, unnötig kompliziert.

Andreas Reckwitz (* 1970) ist Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Aus: Reckwitz, Andreas: Kleine Genealogie des Lesens als kulturelle Praxis. In: Katharina Raabe und Frank Wegner (Hrsg.): Warum Lesen. Mindestens 24 Gründe. Berlin 2020, S. 35-42.
Material 3
Mediennutzung von Jugendlichen
Medienbeschäftigung in der Freizeit 2021
– täglich/mehrmals pro Woche –
deutsch sh abi 2023 m3
Quelle: JIM 2021, Angaben in Prozent; *egal über welchen Verbreitungsweg, **2020 nicht abgefragt, Basis: alle Befragten, n=1.200

Aus: Mediennutzung von Jugendlichen, S. 15.
Material 4
Engelbarts Traum. Wie der Computer uns Lesen und Schreiben abnimmt (2014, Auszug)
Henning Lobin
1
Nicht nur der Mensch, nicht nur die Schrift, nicht nur ich – das Lesen wandelt
2
sich, wie es sich immer gewandelt hat, wenn sich die Schrift, die Technologien
3
und die Medien der Schrift veränderten. Das Lesen selbst ist nicht gefährdet,
4
niemals zuvor war Geschriebenes so leicht verfügbar wie heute – jederzeit,
5
überall und für jeden. Es wird auch im digitalen Zeitalter sehr viel gelesen,
6
vielleicht mehr als je zuvor. Das Smartphone, das Tablet – all diese Geräte
7
können als universale Computer sehr viel, aber vor allem zeigen sie Schrift an,
8
ob es nun Facebook-Seiten, Spiegel Online-Meldungen oder Whatsapp-
9
Nachrichten sind. Die Kulturtechnik des Lesens floriert und hat sich sogar neue
10
Bereiche erschlossen [...]
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Anders verhält es sich damit, wie gelesen wird. Das tägliche, überall
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stattfindende Lesen bezieht sich nicht auf 400-seitige Bücher, sondern auf kleine
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Texteinheiten, die in Sekunden oder wenigen Minuten aufgenommen werden.
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Und dieses Lesen ist umgeben von anderen Formen der Kommunikation, es ist
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nicht vertieft, konzentriert, sondern erfolgt sehr oft nebenbei, ist flüchtig und
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dabei zugleich Teil umfassenderer Kommunikationen. Ein Roman, ein
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philosophisches oder wissenschaftliches Werk dagegen erfordern die Versenkung,
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eine tiefe Konzentration, ohne die ein Leser vom Entscheidenden eines Buchs
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nicht nur etwas weniger, sondern gar nichts aufnimmt. Zwar werden auch heute
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noch solche Werke gelesen, doch stellen sich die Verlage auf die Veränderungen
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der Lesepraxis ein. Bücher sind in kürzere Einheiten gegliedert und Sachbücher
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wesentlich visueller als früher. Der Hypertext hat den Leser daran gewöhnt,
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kleinere, voneinander unabhängige Textstücke zu lesen.

Der Autor Henning Lobin (* 1964) ist Professor für Angewandte Sprachwisenschaft und Computerlinguistik.
Aus: Lobin, Henning: Engelbarts Traum. Wie der Computer uns Lesen und Schreiben abnimmt. Frankfurt am Main 2014, S. 156 ff.
Material 5
Erklärung von 130 Forschern: Zur Zukunft des Lesens (2019, Auszug)
1
Bildschirme und bedrucktes Papier sind als Lesemedien nicht gleichwertig: Mehr
2
als 130 Leseforscher aus ganz Europa haben eine Erklärung zur Zukunft des
3
Lesens im Zeitalter der Digitalisierung unterzeichnet.
4
[...] Die Forschung zeigt, dass Papier weiterhin das bevorzugte Lesemedium für
5
einzelne längere Texte bleiben wird, vor allem, wenn es um ein tieferes
6
Verständnis der Texte und um das Behalten geht. Außerdem ist Papier der beste
7
Träger für das Lesen langer informativer Texte. Das Lesen langer Texte ist von
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unschätzbarem Wert für eine Reihe kognitiver Leistungen wie Konzentration,
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Aufbau eines Wortschatzes und Gedächtnis. Daher ist es wichtig, dass wir das
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Lesen langer Texte als eine unter mehreren Leseformen bewahren und fördern.
11
Da das Bildschirmlesen weiter zunehmen wird, müssen wir dringend
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Möglichkeiten finden, das tiefe Lesen langer Texte in Bildschirmumgebungen zu
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erleichtern.

Aus: Stavanger Erklärung: Erklärung von 130 Forschern. Zur Zukunft des Lesens. FAZnet., veröffentlicht am 22. Januar 2019
Material 6
Serien: Erzählen ohne Ende (2020, Auszug)
Natalie Weidenfeld
1
Geschichten zu erzählen und zu hören, aus ihnen zu lernen, ist dem Menschen
2
seit Anbeginn ein soziales, ein psychologisches Bedürfnis. [...] Erzählungen sind
3
nicht nur nach wie vor hoch im Kurs, sondern, man kann fast sagen, noch
4
beliebter als je zuvor. Geschichten begegnen uns und der jungen Generation
5
zwar immer weniger in Büchern und auch immer weniger in Kinofilmen, dafür
6
umso mehr im Internet, im Streamingangebot von Amazon und Netflix.
7
Diese haben in den vergangenen Jahren eine ganz spezifische Form
8
angenommen – und zwar die der Serie. Gewiss, aufeinanderfolgende
9
Geschichten gibt es nicht erst seit Netflix: Romane in Fortsetzungsform waren
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schon im 19. Jahrhundert ein Kassenschlager. Aber dass Serien die Massenkultur
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derart dominieren, ist nun doch ein spezifisches Phänomen des 21. Jahrhunderts.
12
Seriöse Regisseure, seriöse Schauspieler – sie alle setzen auf Serien. Und das
13
aus dem einfachen Grund, dass dort das meiste Geld und der meiste Erfolg
14
liegen. Postmoderne Kritiker können jubeln.
15
Endlich eine Ästhetik, welche die geschlossene, vermeintlich bürgerliche
16
geschlossene Erzählform – die den marxistischen Kritikern schon immer ein Dorn
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im Auge war – sprengt und dafür eine neue, multiperspektivische,
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superdemokratische kreiert. Ganze Horden von Universitätsdozenten stürzen sich
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nun auf die intellektuelle Aufarbeitung populärer Serien – was nicht nur volle
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Seminarsäle garantiert, sondern auch noch den Spaßfaktor erhöht.
21
Dabei erreicht die Begeisterung für die Serie und das serielle Erzählen ein Level,
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dass Filmwissenschaftler wie Georg Seeßlen und Markus Metz in ihr den Ausdruck
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einer neuen fatalistischen Metaphysik erkennen: Wie die Helden in einer Serie oft
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immer auch gut und böse zugleich sind, sind auch wir gleichzeitig gut und böse,
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und so wie die Geschehnisse in der Serie nicht so bleiben, wie sie sind, bleibt
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auch die Welt nie so, wie sie ist. Endlich eine Erzählform, die das wahrhaft
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Menschliche wirklich abbildet!

Natalie Weidenfeld (*1970) ist promovierte Kulturwissenschaftlerin und Buchautorin.
Aus: Weidenfeld, Natalie: Serien. Erzählen ohne Ende.
Material 7
Immaterielle Realitäten (2020, Auszug)
Wolf Singer
1
Ein [...] durch mehrere Studien abgesicherter Befund ist die Verkürzung der
2
Aufmerksamkeitsspanne bei Kindern, die viel Zeit vor dem Bildschirm verbringen.
3
Der Grund ist vermutlich, dass Inhalte in linearer Form aneinandergereiht
4
werden müssen, der Rhythmus vorgegeben wird und die raschen
5
Schnittsequenzen keine Anforderungen an die Integration zeitlich weit
6
auseinanderliegender Ereignisse erfordern. Lesen, insbesondere von
7
anspruchsvollen Texten, erfordert hingegen, eine Brücke zu schlagen vom
8
Anfang eines Satzes, hinweg über mehrfach verschachtelte Nebensätze bis zum
9
befreienden Verb am Satzende. Denn erst dieses erlaubt eine Festlegung der
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Bedeutung aller vorangegangenen Satzelemente. Hier sind Arbeitsgedächtnis und
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lange Aufmerksamkeitsspannen gefragt. Offenbar entwickeln sich beide
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Funktionen nur eingeschränkt oder verkümmern sogar, wenn sie nicht gefordert
13
werden. Das Lesen von anspruchsvollen Texten scheint hier ein wirksames
14
Antidot zu sein. [...]
15
[D]as Lesen [nimmt] eine Sonderstellung ein, die es von allen anderen
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Rezeptionsformen unterscheidet. Es räumt dem Rezipienten ein Höchstmaß an
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Freiheit ein, fordert ihn aber zugleich, ganz besonders viel vom Eigenen
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einzubringen, das Gelesene mit Vorstellungen, Erinnerungen, Gedanken und
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Bildern kreativ zu ergänzen. Wer im Kino sitzt oder vor der Mattscheibe oder in
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seinem Smartphone YouTube schaut, dem wird fast jegliche Eigenleistung
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abgenommen: Der Regisseur und Kameramann legen fest, worauf die
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Aufmerksamkeit gelenkt werden soll, Prosodie und begleitende Filmmusik sorgen
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für die emotionale Einbettung des Geschehens, und die Bilder betäuben die
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Phantasie, weil sie nicht gebraucht wird, um sich die Ereignisse vorzustellen. Der
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Zuschauer wird mit fast allen Sinnen vereinnahmt und gezwungen, in Echtzeit
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den Vorgaben des Mediums zu folgen. Und damit er sich nicht entziehen und
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eigenen Assoziationen nachgehen kann, werden die Schnittsequenzen erhöht.
28
Das nimmt dem Zuschauer die letzte Möglichkeit, dem Gesehenen mit Abstand
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und selbstgewählter Perspektive zu begegnen. [...]
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Auch wenn die Verschriftlichung an Grenzen des Vermittelbaren stößt, die nur
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durch Einbeziehung anderer Sinne – und das auch nur zum Teil – überwunden
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werden können, sollte schon allein die Freiheit, die nur Lesen einräumt, als hohes
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Gut gewertet werden. Denn sie ist es, die Pluralität begünstigt. Weil jeder Leser
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über seinen eigenen Schatz an Vorwissen verfügt und dieser, wie ausgeführt,
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festlegt, wie das Gelesene wahrgenommen wird, verwandelt sich jeder den Text
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auf verschiedene, sehr idiosynkratische Weise an. Das gilt auch für die
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Rezeption von Gesprochenem und von Filmen, wenn auch in weit geringerem
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Maße, weil sie, wie dargelegt, der Phantasie weniger Raum geben.
39
Nun wird oft angeführt, Lesen sei anstrengend. Ja, das ist es, weil kreative
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Prozesse das Gehirn fordern. Aber die Mühe lohnt.

Wolf Singer (* 1943) ist Neurophysiologe und Hirnforscher.
Aus: Singer, Wolf: Immaterielle Realitäten. In: Katharina Raabe und Frank Wegner (Hrsg.): Warum Lesen. Mindestens 24 Gründe. Berlin 2020, S. 157-160.
Material 8
Mythos Kinderbuch – Warum Jim Knopf aus mir keinen besseren Menschen gemacht hat. (2015, Auszug aus einer Rede)
Andreas Steinhöfel
1
Mein verstorbener Lebensgefährte war ein ADHS-Erwachsener. Er stand Vorbild
2
für die Hauptfigur in meinem Kinderbuch Rico, Oskar und die Tieferschatten, und
3
er las das Buch in unserem letzten gemeinsamen Urlaub. Für die Lektüre der
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etwa 200 großzügig gesetzten Textseiten benötigte er sieben Tage zu jeweils
5
etwa zwei Stunden ... das sind, ich hab’s für Sie ausgerechnet, damit Sie mir hier
6
nicht schon zu Beginn dieser Sause heimlich wegkippen, pro Seite etwa vier
7
Minuten Lesezeit. Schwitzend las er und fluchend und, ja, auch lachend, und
8
glücklich zuletzt und stolz... aber ich hatte meinen Freund zu weniger Kraft
9
raubenden Gelegenheiten glücklicher erlebt und stolzer erlebt. Er hatte das Buch
10
nur mir zuliebe gelesen und, na gut, sicherlich auch ein wenig aus Eitelkeit ...
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Pro Seite vier Minuten jedenfalls, in denen mein Freund angestrengt las, und
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bitte, stellen Sie sich das nicht lustig vor: einen Menschen, dem von der schieren
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Anstrengung des Lesens der Schweiß ausbricht. Stellen Sie sich stattdessen,
14
liebe Anwesende, irgendein Wissensgebiet oder Tätigkeitsfeld vor, das Sie gar
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nicht oder nur rudimentär beherrschen und dem Sie deshalb nur mit großer
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innerer Ablehnung begegnen – in der Regel reicht dazu Mathe oder die
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europäische Bankenpolitik – und versuchen Sie dann, sich eine Woche lang, drei
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Stunden täglich damit konfrontiert zu sehen – Spaß geht anders!
19
Mein jüngster Bruder las bisher Zeit seines Lebens genau drei Dinge: Als Kind –
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immer auf einem Stuhl gegen die Heizung sitzend, in Unterwäsche, die nackten
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Füße auf dem Heizkörper, auf dem Tisch ein Glas Kakao – jeden einzelnen Band
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um den Gallier Asterix sowie alle Comics der Reihe Lustiges Taschenbuch von
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Disney. Inzwischen, als Erwachsener, liest er hin und wieder, zu seinem
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Amüsement, wie er sagt, die BILD-Zeitung. Er ist Elektriker. Kein Studium. Keine
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Literatur, auch kein von mir verfasstes Buch, das er je gelesen hätte. Zu
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anstrengend, sagt er. Und redet Sie dennoch, das garantiere ich, gegen fast jede
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vorstellbare Wand, mit der Eloquenz eines hoch dotierten Staatanwalts und
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einem universellen Wissen, von dem ich bis heute nicht weiß, woher mein Bruder
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es bezieht, jedenfalls nicht aus Büchern. [...]
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Zwei Nichtleser-Biographien. Zwei Kinder, die sehr wohl die Kulturtechnik des
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Lesens beherrschten, sich aber von nichts und niemandem dazu bringen ließen,
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mal das berüchtigte gute Buch zu lesen. Oder überhaupt irgendein Buch. Oder
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wenigstens mal einen Arzneimittelbeipackzettel. Beide Männer aber, lassen Sie
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sich das versichert sein, liebe Anwesende, beide Männer waren bzw. sind
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wunderbare Menschen. Warmherzige, einfühlsame und mitfühlende, hilfsbereite
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und patente, loyale Menschen. Die sie auszeichnenden Qualitäten waren nicht
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durch Lektüre oder gar Studium erworben, sondern in einem alltäglichen
38
Miteinander, das auf einfachen Regeln basiert, zum Beispiel der, dass man
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leichter durchs Leben kommt, wenn man einander unterstützt, als sich
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gegenseitig auf die Köpfe zu hauen. Oder der, dass man anderen nur zumuten
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sollte, was man selber zu ertragen bereit wäre. Sie wissen schon: Goldene
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Regeln.
43
Haben Sie schon mal überlegt, wie viel Zeit Sie mit schlechten Büchern
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verplempert haben? Nicht-Leser haben dieses Problem nicht. Die tun in jener
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Zeit, die unsereins mit Lesen verbringt, etwas anderes, nämlich das, worüber wir
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so gern lesen: Sie leben.

Andreas Steinhöfel (*1962) ist ein bekannter Jugendbuchautor, u.a. schrieb er den Jugendroman Die Mitte der Welt und die Bände um das ungleiche Freundespaar Rico und Oskar, die auch verfilmt worden sind (z.B. Rico, Oskar und die Tieferschatten).
Aus: Steinhöfel, Andreas: Mythos Kinderbuch – Warum Jim Knopf aus mir keinen besseren Menschen gemacht hat (Auszug aus einer Rede, gehalten am 22.2.2015 in Dresden)

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