Aufgabe 2
Literarische Erörterung
Thema: Annette Graczyk: Sprengkraft Sexualität: Zum Konflikt der Geschlechter in Georg Büchners Woyzeck. Aufgabenstellung:- Erörtere auf der Basis deiner Textkenntnis, ob bzw. inwiefern diese Einschätzung der Figur Marie zutrifft.
Anmerkung zur Autorin:
Annette Graczyk (* 1955) ist Germanistin. Aus: Annette Graczyk (02.02.2023): Sprengkraft Sexualität: Zum Konflikt der Geschlechter in Georg Büchners Woyzeck. In: Georg Büchner Jahrbuch Band 11 (2005-2008) Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2009, S. 101–121.
Weiter lernen mit SchulLV-PLUS!
monatlich kündbarSchulLV-PLUS-Vorteile im ÜberblickDu hast bereits einen Account?
Hier geht's zur Lektüre Woyzeck
Hier geht's zur Lektürehilfe Woyzeck
Hier geht's zur Lektürehilfe Woyzeck
Einleitung
- In ihrem Aufsatz Sprengkraft Sexualität. Zum Konflikt der Geschlechter in Georg Büchners „Woyzeck“ beschreibt Annette Graczyk die Figur der Marie als „Individuum mit eigenständigen Lebensinteressen“ und betont ihre Verteidigung der sexuellen Freiheit und des Rechts auf freie Partnerwahl.
- Diese Einschätzung wirft die Frage auf, ob Marie tatsächlich als eine selbstbestimmte und emanzipierte Frau dargestellt wird oder ob andere Aspekte ihrer Figur diese Interpretation relativieren. Im Folgenden wird untersucht, inwiefern Graczyks Einschätzung der Figur Marie in Büchners Woyzeck zutrifft.
Hauptteil
Erläuterung der These- Annette Graczyk betont Maries Verteidigung ihrer sexuellen Freiheit als Ausdruck ihrer Emanzipation. Ihre bewusste Entscheidung, ihre Sexualität frei auszuleben, steht im Kontrast zu den gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen ihrer Zeit und zeigt ihren Anspruch auf Autonomie über ihren eigenen Körper und ihre Partnerwahl.
- Graczyks Beschreibung von Marie als „Individuum mit eigenständigen Lebensinteressen“ spiegelt sich in Maries Versuch wider, ihre Rechte als Frau zu verteidigen, obwohl sie sich gleichzeitig in sozialen und moralischen Zwängen verstrickt sieht.
- Selbstständiges Verhalten: Marie tritt als selbstständige Person auf, die von Woyzeck zwar finanziell abhängig ist, ihm jedoch keine falschen Hoffnungen auf eine dauerhafte partnerschaftliche Bindung macht. Ihre Unabhängigkeit zeigt sich in ihrer klaren Abgrenzung von emotionaler Abhängigkeit. Trotz ihrer finanziellen Abhängigkeit von Woyzeck bleibt Marie emotional unabhängig und versucht, ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu verfolgen. In der 4. Szene (S. 15) verteidigt Marie ihr Verhalten gegenüber Woyzecks Vorwürfen und zeigt, dass ihr ihre eigenen Interessen wichtig sind.
- Verteidigung der persönlichen Würde: Trotz der Nachforschungen und Vorwürfe Woyzecks verteidigt Marie ihre persönliche Würde. Ihre Aussage „Bin ich ein Mensch?“ 4. Szene (S. 15) zeigt ihren Anspruch auf Anerkennung und Respekt als eigenständige Person. Marie stellt sich gegen die gesellschaftlichen und moralischen Urteile und fordert Respekt für ihre eigenen Entscheidungen.
- Erotisches Aufbegehren und Lebensfreude: In ihrer Affäre mit dem Tambourmajor lebt Marie ihre Sexualität selbstbewusst aus. Sie zeigt Freude an kleinen Dingen und ein starkes Lebensgefühl, was als Ausdruck ihrer Emanzipation und ihres Anspruchs auf sexuelle Freiheit interpretiert werden kann. Marie genießt das Leben und die damit verbundenen Freuden, was ihre Unabhängigkeit und ihr Streben nach persönlichem Glück unterstreicht. Maries Freude über die Ohrringe (4. Szene, S. 14) und ihr aktives Sozialleben, wie der Besuch der Kirmes (3. Szene) und der Tanz mit dem Tambourmajor (12. Szene) verdeutlichen diese Lebensfreude und ihr selbstbewusstes Auftreten.
- Widerstand gegen soziale Normen: Marie widersetzt sich außerdem aktiv den sozialen Normen ihrer Zeit, indem sie sich nicht in die traditionelle Rolle der ergebenen Frau und Mutter einfügt. Sie sucht bewusst nach neuen, wenn auch moralisch zweifelhaften Wegen und Erfahrungen, wie auch ihre Affäre mit dem Tambourmajor zeigt.
- Emotionale Ausdruckskraft: Weiterhin zeigt Marie eine große emotionale Ausdruckskraft und lässt ihre Gefühle offen erkennen. Sie zeigt ihre Freude, ihre Liebe, aber auch ihre Wut und Verzweiflung deutlich. Diese emotionale Ehrlichkeit und Offenheit können als Ausdruck ihrer Emanzipation gesehen werden, da sie ihre Gefühle nicht unterdrückt oder versteckt, sondern authentisch lebt.
- Prekäre materielle Situation: Maries Leben in Armut schränkt ihre Selbstbestimmung erheblich ein. Ihre Abhängigkeit von Woyzecks finanziellem Beitrag zwingt sie zu Kompromissen. In der Ohrringszene (S. 14, Szene 4) belügt sie ihn, was ihre Abhängigkeit und fehlende Autonomie zeigt. Die finanzielle Not zwingt Marie somit, sich in Abhängigkeiten zu begeben, die ihre Selbstbestimmung einschränken.
- Moralische Einschränkungen und Schuldgefühle: Maries Äußerungen über ihre Schuldgefühle und ihre Bibellektüre (17. Szene) deuten darauf hin, dass sie ihre Handlungen moralisch hinterfragt und sich selbst als „schlecht Mensch“ empfindet („Ich bin doch ein schlecht Mensch. Ich könnt' mich erstechen.“, 4. Szene S. 15), was ihre Selbstbestimmung relativiert. Ihre moralischen Zweifel und Schuldgefühle stehen ihrer Selbstbestimmung im Weg und zeigen, dass sie innerlich zerrissen ist.
- Minderwertigkeitsgefühl: Marie bezeichnet ihr Kind als „Hurenkind“ (2. Szene, S. 10), was auf ein tief verwurzeltes Gefühl der Scham und Minderwertigkeit hinweist. Diese innere Zerrissenheit steht ihrer Emanzipation im Weg, da sie oft von Schuldgefühlen und Selbstzweifeln überwältigt wird, die ihre Handlungsfähigkeit beeinträchtigen. Ihre Beziehung zum Tambourmajor könnte als verzweifelter und naiver Versuch interpretiert werden, ihre soziale und wirtschaftliche Lage zu verbessern. Diese Minderwertigkeitsgefühle und der verzweifelte Versuch, ihre Situation zu verbessern, untergraben ihre Selbstbestimmung ebenfalls.
- Manipulation durch andere Figuren: Marie wird von anderen Figuren, insbesondere vom Tambourmajor, manipuliert und ausgenutzt. Durch ihre Beziehung zu ihm möchte sie sich aus ihrer prekären Situation befreien, wobei sie jedoch zu einem Spielball in den Händen mächtigerer Männer wird.
Schluss
- Die Einschätzung von Annette Graczyk, dass Marie in Georg Büchners Woyzeck als selbstbestimmtes „Individuum mit eigenständigen Lebensinteressen“ dargestellt wird, trifft in Teilen zu.
- Marie zeigt Ansätze von Selbstbestimmung und emanzipiertem Verhalten, insbesondere in ihrer Verteidigung der sexuellen Freiheit und ihrer Freude am Leben. Dennoch wird ihre Selbstbestimmung durch ihre prekäre materielle Lage, ihre Abhängigkeit von Woyzeck und ihre moralischen Selbstzweifel erheblich eingeschränkt.
- Insgesamt zeigt sich Marie als eine komplexe Figur, deren Handlungen und Emanzipation sowohl von einem Streben nach Unabhängigkeit als auch von äußeren Zwängen und inneren Konflikten geprägt sind.