Aufgabe 1
Interpretation eines literarischen Textes
Thema: Else Lasker-Schüler (* 1869 - † 1945): Ein Lied der Liebe (1917)Johann Wolfgang von Goethe (* 1749 - † 1832): Nähe des Geliebten (1795) Aufgabenstellung:
- Interpretiere das Gedicht Ein Lied der Liebe von Else Lasker-Schüler. (ca. 70 %)
- Vergleiche die Gestaltung der Liebeserfahrung mit der in Nähe des Geliebten von Johann Wolfgang von Goethe. Berücksichtige dabei sowohl inhaltliche als auch sprachliche und formale Aspekte. (ca. 30 %)
1
Seit du nicht da bist,
2
Ist die Stadt dunkel.
3
Ich sammle die Schatten
4
Der Palmen auf,
5
Darunter du wandeltest.
6
Immer muß ich eine Melodie summen,
7
Die hängt lächelnd an den Ästen.
8
Du liebst mich wieder –
9
Wem soll ich mein Entzücken sagen?
10
Einer Waise oder einem Hochzeitler,
11
Der im Widerhall das Glück hört.
12
Ich weiß immer,
13
Wann du an mich denkst –
14
Dann wird mein Herz ein Kind
15
Und schreit.
16
An jedem Tor der Straße
17
Verweile ich und träume;
18
Ich helfe der Sonne deine Schönheit malen
19
An allen Wänden der Häuser.
20
Aber ich magere
21
An deinem Bilde.
22
Um schlanke Säulen schlinge ich mich
23
Bis sie schwanken.
24
Überall steht Wildedel
25
Die Blüten unseres Blutes;
26
Wir tauchen in heilige Moose,
27
Die aus der Wolle goldener Lämmer sind.
28
Wenn doch ein Tiger
29
Seinen Leib streckte
30
Über die Ferne, die uns trennt,
31
Wie zu einem nahen Stern.
32
Auf meinem Angesicht
33
Liegt früh dein Hauch.
Aus: Gedichte 1902-1943, Deutscher Taschenbuch Verlag München, 3. Auflage 1990, S. 182 f. Material 2 Nähe des Geliebten Johann Wolfgang von Goethe
1
Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer
2
Vom Meere strahlt;
3
Ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer
4
In Quellen malt.
5
Ich sehe dich, wenn auf dem fernen Wege
6
Der Staub sich hebt;
7
In tiefer Nacht, wenn auf dem schmalen Stege
8
Der Wandrer bebt.
9
Ich höre dich, wenn dort mit dumpfem Rauschen
10
Die Welle steigt.
11
Im stillen Haine geh’ ich oft zu lauschen,
12
Wenn alles schweigt.
13
Ich bin bei dir; du seist auch noch so ferne,
14
Du bist mir nah!
15
Die Sonne sinkt; bald leuchten mir die Sterne.
16
O, wärst du da!
Aus: Johann Wolfgang Goethe: Gedichte 1756-1799, Hrsg. Karl Eibl. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt. 1. Auflage 1998, S. 647.
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Einleitung
- Das im Jahr 1917 veröffentlichte Gedicht Ein Lied der Liebe von Else Lasker-Schüler, behandelt die intensiven Gefühle eines lyrischen Ichs, das unter der Trennung von einer geliebten Person leidet.
- Die Darstellung dieser Gefühle erfolgt durch eine Vielzahl von sprachlichen Mitteln, die die innere Zerrissenheit und emotionalen Schwankungen des lyrischen Ichs verdeutlichen.
Hauptteil
Inhaltliche Analyse- In den ersten drei Strophen wird eine dunkle und trostlose Stadt beschrieben. Die Stadt spiegelt die Verzweiflung und Einsamkeit des lyrischen Ichs wider. Der Verlust des Geliebten hat die Umgebung in Dunkelheit getaucht (Vgl. V. 1 ff.). Das lyrische Ich sammelt die Schatten der Palmen, unter denen der Geliebte wandelte und muss ständig eine Melodie summen, die an den Ästen hängt, als ob sie die Präsenz des Geliebten symbolisiert (Vgl. V. 3-7).
- In den folgenden zwei Strophen wird die Euphorie und Freude des lyrischen Ichs über die Liebe des Geliebten deutlich. Das Bedürfnis, diese Gefühle auszudrücken, führt zu einer Überlegung, wem es sein Entzücken mitteilen könnte, z. B. „einer Waise oder einem Hochzeitler, der im Widerhall das Glück hört“ (V. 10 f.).
- In den Strophen sechs und sieben empfindet das Lyrische Ich eine innige gedankliche Verbundenheit mit dem Geliebten, die jedoch von elementarem Schmerz aufgrund der Trennung überschattet wird. Das Herz des lyrischen Ichs wird zu einem schreienden Kind (Vgl. V. 14 f.), sobald es spürt, dass der Geliebte an es denkt (Vgl. V. 12 f.).
- In den nächsten zwei Strophen führt der Spaziergang durch die Stadt zu einer Imagination der Schönheit des Geliebten, wodurch die Stadt taghell erscheint. Das lyrische Ich hilft der Sonne, die Schönheit des Geliebten an den Wänden der Häuser zu malen (Vgl. V. 18 f.).
- Daraufhin werden Sehnsucht und Entbehrung des Geliebten intensiviert. Das Lyrische Ich umschlingt Säulen bis sie schwanken, eine Metapher für die instabile, schwankende emotionale Verfassung (Vgl. V. 22 f.).
- Das Lyrische Ich stellt sich ein gemeinsames Erleben der Liebe in einer blühenden Natur vor, wo „Wildedel“ (V. 24) und „die Blüten [ihres] Blutes stehen“ (V. 25) stehen. (Vgl. V. 24 ff.).
- Daraufhin wird Wunsch nach Überwindung der trennenden Distanz und die Vorstellung von unmittelbarer Nähe ausgedrückt (Vgl. V. 28 ff.). Die Vorstellung, dass ein „Tiger“ (V. 28) seinen Körper über eine große Distanz streckt, drückt den Wunsch aus, die räumliche Entfernung zu überwinden (Vgl. V. 30).
- Das Gedicht thematisiert die gesteigerte Sehnsucht nach Nähe zum geliebten Gegenüber und die schmerzvolle Erfahrung der räumlichen Distanz. Es wechselt zwischen Traum und Wirklichkeit und zeigt den Kontrast zwischen der inneren Verbundenheit und der realen Trennung. Die subjektive Weltwahrnehmung des lyrischen Ichs wird zugunsten einer intensiven, die Realität überwindenden, emotionalen Erfahrung aufgelöst.
- Das Gedicht besteht aus 15 ungereimten Zweizeilern und einem Dreizeiler, was die sprunghafte, spannungsvolle gedankliche Bewegung des lyrischen Ichs und seine emotionale Unruhe und Zerrissenheit unterstreicht. Vereinzelt finden sich auch Satzgefüge, wie in den Versen 28-31.
- Das Lyrische Ich spricht in einer monologisch-reflexiven Weise und wendet sich gedanklich an den abwesenden Geliebten. Dies wird durch die direkte Ansprache und die introspektiven Reflexionen deutlich, die im gesamten Gedicht zu finden sind.
- Die Trauer über die Trennung sowie die Freude über die (imaginierte) Nähe des Geliebten werden durch Lichtmetaphorik veranschaulicht. Beispielsweise wird die Stadt als dunkel beschrieben, seit der Geliebte nicht mehr da ist: „Seit du nicht da bist / Ist die Stadt dunkel“ (V. 1 f.). Die Vorstellung, die Schatten der Palmen zu sammeln, unter denen der Geliebte wandelte, symbolisiert das Festhalten an Erinnerungen (Vgl. V. 3-5). Ein weiteres Bild ist die Sonne, die die Schönheit des Geliebten malt (Vgl. V. 18), was die andauernde Präsenz des Geliebten im Leben des lyrischen Ichs verdeutlicht. Auch der Vergleich mit einem „nahen Stern“ (V. 31) zeigt die Nähe in der Ferne (Vgl. V. 31).
- Die Einsamkeit des lyrischen Ichs wird durch die Raumsemantik des Umhergehens in der Stadt verdeutlicht: „An jedem Tor der Straße / Verweile ich und träume“ (V. 16 f.).
- Das intensive Liebeserleben wird außerdem durch Naturmetaphern dargestellt, wie etwa in der Zeile „Überall steht Wildedel / Die Blüten unseres Blutes“ (V. 24 f.), die die Verbindung zwischen den Liebenden durch die Natur symbolisiert.
- Der emotionale Ausnahmezustand des Lyrischen Ichs wird durch Bilder aus exotischer und religiöser Sphäre betont. Beispiele dafür sind die „Palmen“ (V. 4), die „heiligen Moose“ (V. 26), die aus der„ Wolle goldener Lämmer“ (V. 4) bestehen und der „Tiger“ (V. 28).
- Die elementare Erfahrung des Schmerzes und der Entbehrung aufgrund der Trennung wird durch ausdrucksstarke Verben wie „Dann wird mein Herz ein Kind / Und schreit“ (V. 14 f.) und „Aber ich magere / An deinem Bilde“ (V. 20 f.) dargestellt.
- Die Sehnsucht des Lyrischen Ichs wird durch außergewöhnliche Vergleiche hervorgehoben, wie in der Zeile „Wenn doch ein Tiger / Seinen Leib streckte / Über die Ferne, die uns trennt, / Wie zu einem nahen Stern“ (V. 28-31). Hier wird der Wunsch nach Überwindung der Distanz vermittelt. Gleichzeitig handelt es sich bei diesem Beispiel auch um ein Enjambement, wodurch zusätzliche Spannung aufgebaut wird.
- Die belebte Umwelt wird durch Personifikationen wie „eine Melodie hängt lächelnd an den Ästen“ (V. 6f.) und die Sonne, die die Schönheit malt (Vgl. V. 18), lebendig und präsent dargestellt.
- Die Gefühlsintensität wird durch Alliterationen betont, wie in „Blüten unseres Blutes“ (V. 25). Die Darstellung einer umfassenden Realität wird durch Hyperbeln wie „An jedem Tor“ (V. 16), „An allen Wänden“ (V. 19) und „Überall steht Wildedel“ (V. 24) verdeutlicht.
- Die Erlebnisse des Lyrischen Ichs werden durch eine Wortwahl überhöht, die zu Archaismen und gehobenem Stil tendiert, wie „wandeltest“ (V. 5), „Widerhall“ (V. 11), und „ich magere / An deinem Bilde“ (V. 20 f.).
- Schließlich wird die unmittelbare Überwindung der Trennung durch den Wechsel des Modus vom Konjunktiv in den Indikativ Präsens dargestellt, wie in „Auf meinem Angesicht / liegt früh dein Hauch“ (V. 32 f.). Dies vermittelt die Vorstellung, dass die Trennung zumindest im Geist bereits überwunden ist.
Fazit
- Ein Lied der Liebe ist eine poetische Darstellung der Sehnsucht und des Schmerzes, die durch die Trennung von einer geliebten Person entstehen.
- Die unregelmäßige Form und vielfältigen sprachlichen Mittel verdeutlichen die emotionale Zerrissenheit des lyrischen Ichs. Die Bildlichkeit im Gedicht intensiviert die Darstellung der Gefühlsregungen des Lyrischen Ichs in der Trennungssituation von dem geliebten Gegenüber. Dies wird besonders deutlich durch verschiedene Metaphern und Symbole.
- Durch den Wechsel zwischen Traum und Wirklichkeit schafft das Gedicht eine tief berührende Darstellung der Liebeserfahrung.
Teilaufgabe 2
Überleitung
- Nachdem die Liebeserfahrung in Else Lasker-Schülers Ein Lied der Liebe dargelegt wurde, soll das Gedicht im Folgenden mit Johann Wolfgang von Goethes Werk Nähe des Geliebten verglichen werden, um die verschiedenen literarischen Ansätze zur Darstellung der Sehnsucht und des Liebesschmerzes bei räumlicher Trennung zu untersuchen.
Hauptteil
Gemeinsamkeiten- Themen: Beide Gedichte thematisieren die Sehnsucht des lyrischen Ichs nach einer geliebten Person, die physisch nicht anwesend ist. In beiden Fällen ist die Sehnsucht das zentrale Gefühl, das das gesamte Gedicht durchzieht. Damit einher geht auch das Gefühl des Alleinseins. Sowohl bei Lasker-Schüler als auch bei Goethe erlebt das lyrische Ich eine tiefe Einsamkeit in der Abwesenheit des geliebten Menschen.
- Dominanz des Visuellen: Ebenfalls spielen visuelle Elemente in beiden Gedichten eine wichtige Rolle. Lasker-Schüler nutzt Licht- und Schattenmetaphorik, während Goethe auf natürliche Bildlichkeit zurückgreift, um die Präsenz des Geliebten zu beschwören.
- Umwelt als semantischer Raum des Liebesempfindens: Die Umwelt wird in beiden Gedichten als ein Raum gestaltet, der die Liebesempfindungen des lyrischen Ichs widerspiegelt. Bei Lasker-Schüler sind es die Schatten der „Palmen“ (V. 4) und die dunkle Stadt, bei Goethe zahlreiche Naturbilder (z. B. „Sonnenlicht“, V. 1; „Meer“, V. 2; Mondlicht, Vgl. V. 3; „Quellen“, V. 4; Hain, V. 11).
- Sternmotiv: Beide Gedichte verwenden das Sternmotiv, um die Sehnsucht und die emotionale Distanz zwischen den Liebenden darzustellen. In beiden Fällen steht der Stern symbolisch für etwas, das sowohl nah als auch fern ist.
- Ton und Gestus der Vertraulichkeit: Beide Gedichte zeichnen sich durch einen vertraulichen Ton aus, in dem das lyrische Ich die geliebte Person direkt anspricht oder sich gedanklich an sie wendet.
- Verbindung von Sehnsucht und Realitätssinn: Am Ende beider Gedichte scheint die Trennung überwunden zu sein, als ob die Sehnsucht und die Vorstellungskraft des Lyrischen Ichs die räumliche Distanz aufheben könnten.
- Lyrisches Ich: Bei Lasker-Schüler drückt das Lyrische Ich starke, impulsive Gefühle aus und schwankt zwischen Traum und Wirklichkeit. Die Verbindung zum Geliebten wirkt symbiotisch, fast verschmelzend. Das lyrische Ich bei Goethe wirkt seelisch ausgewogener und realistischer. Die Gefühle werden kontrollierter und reflektierter dargestellt, wobei eine individuelle Abgrenzung zwischen den Liebenden bestehen bleibt.
- Bildlichkeit: Im ersten Gedicht dominiert die subjektive und assoziative Bildlichkeit, die teilweise chiffrenhaft und expressionistisch wirkt. Bei Goethe werden traditionelle, symbolische Bilder sowie Natur- und Wandermotive eingesetzt, um die Gefühle des lyrischen Ichs zu vermitteln.
- Form und Struktur: Das Gedicht Ein Lied der Liebe ist unregelmäßig in Form und Rhythmus, was die emotionale Zerrissenheit des Lyrischen Ichs darstellt. Gothes Gedicht Nähe des Geliebten folgt einer regelmäßigen Form und einem klaren Rhythmus (Jambus, Kreuzreim), was eine strukturierte und geordnete Darstellung der Gefühle ermöglicht.
- Sprache und Ausdruck: Die Sprache des ersten Gedichts ist expressionistisch erweitert, mit ungewöhnlichen Vergleichen und Metaphern, die den emotionalen Ausnahmezustand betonen. Demgegenüber zeichnet sich Goethes Ausdrucksweise durch eine klassische und genrespezifische Form aus.
Schluss
- Während Lasker-Schüler durch eine unregelmäßige Form, subjektive Bildlichkeit und intensive emotionale Ausdrücke die innere Unruhe des lyrischen Ichs betont, setzt Goethe auf eine geordnete Struktur, symbolische Naturbilder und eine seelische Ausgewogenheit des lyrischen Ichs.
- Beide Gedichte bieten eine tiefgehende Reflexion über das Phänomen der Liebe und die Erfahrung der räumlichen Trennung, jedoch in unterschiedlicher Form und mit verschiedenen sprachlichen Mitteln.