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Basiswissen

Aufgabe 4

Erörterung eines pragmatischen Textes

Thema:
Ulrike Winkelmann: Sprache als Experiment (2021)
Aufgabenstellung:
  • Stelle den Argumentationsgang des Textes von Ulrike Winkelmann dar und erläutere die Intention des Textes. (ca. 40%)
  • Erörtere ausgehend von Ulrike Winkelmanns Text die Vor- und Nachteile regulierender Eingriffe in den gesellschaftlichen Sprachgebrauch im Hinblick auf eine diskriminierungsfreie Sprache. (ca. 60%)
Material
Sprache als Experiment
Ulrike Winkelmann
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Ein wichtiger Teil im aktuellen Streit über die Identitätspolitik ist die
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Sprachpolitik – was sich schon daran erkennen lässt, dass der Begriff
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„Identitätspolitik“ strittig ist. Denn diejenigen, denen zugeschrieben wird, sie
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betrieben Identitätspolitik, sprechen oft selbst lieber vom „intersektionalen
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Ansatz. Sie vermuten im Begriff „Identitätspolitik“ schon zu viele
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Herabsetzungen.
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Sprachpolitik ist ein Umgang mit der Sprache, der davon ausgeht, dass ich am
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Sprachgebrauch Machtverhältnisse nicht nur erkennen, sondern mit dem
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Sprachgebrauch auch Machtverhältnisse ändern kann. Ein besonders
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erfolgreiches Kapitel der Sprachpolitik ist die feministische Sprachkritik (so sagte
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man damals noch eher) einer Luise Pusch und einer Senta Trömel-Plötz seit den
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späten achtziger Jahren.
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Ihr Argument, dass die Sprache Machtverhältnisse sichtbar mache und ich also
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meine Sprache auch zum Sichtbarmachen nutzen solle, zieht. Heißt: Ich muss
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mir mehr Mühe damit geben, wen ich anspreche, denn es könnten sich längst
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nicht mehr alle mitgemeint fühlen.
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Diese Verlagerung der Sprachaufmerksamkeit zu den Gemeinten und
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Angesprochenen hat sich seither auf vielen Ebenen abgespielt. So können
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nichtweiße Menschen inzwischen selbst Vorschläge machen, wie sie benannt
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werden wollen. Manche Begriffe, deren Verwendung noch vor 20 Jahren als
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selbstverständlich galt, sind inzwischen tabuisiert: Das N-Wort ist das vielleicht
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beste Beispiel.
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Was sich in diesen Vorgängen spiegelt, ist ein enormer Fortschritt der
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Emanzipation nicht nur von Frauen, sondern von vielen Communitys, die allzu
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lange allzu wenig zu Wort kamen. Dass es dabei nun nicht nur um
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gesellschaftliche Gruppen geht, zeigte zuletzt die Initiative für klimagerechte
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Sprache, die an das Konzept des „Framing“ anknüpft. Die Idee: Begriffe so zu
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setzen, dass die Dimension der Klimakrise nicht übersehen wird; von
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„Erderhitzung“ zu sprechen, damit sichtbar wird, wie verniedlichend das Wort
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„Erderwärmung“ eigentlich ist.
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Wie jede Erfolgsgeschichte hat auch die der emanzipativen Sprachpolitik eine
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Kehrseite. Denn der Erfolg der emanzipativen Sprachpolitik besteht darin, dass
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sie tatsächlich zum Machtmittel wird.
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Es ist das eine, wenn die taz lustige Sprachexperimente macht, wenn sie die
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Fantasie, auch das Verständnisvermögen, bisweilen die Geduld ihrer Leserinnen
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und Leser strapaziert und durch immer neue Zeichen im Text, seien es Sternchen
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oder Unterstriche, englische Abkürzungen oder Wortschöpfungen, ihren Willen
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zur Nichtdiskriminierung bezeugt.
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Es ist aber etwas anderes, wenn uns diese Form der Sprachpolitik als Regel, als
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staatliche oder quasistaatliche oder auch öffentlich getragene Vorgabe
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entgegentritt. Gerichtsurteile und Leitfäden an Universitäten und Behörden
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belegen dies.
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Auch der Deutschlandfunk gendert jetzt – wie auch Claus Kleber im „heute
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journal“. Die Gleichbehandlungsgesetze sorgen dafür, dass in der Verwaltung der
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„Gebrauch der männlichen Form und das praktisch gedachte, aber wirkungslose
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‚Mitmeinen‘ von Frauen“ jetzt gesetzlich nicht mehr zulässig seien – so etwa
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steht es im Leitfaden der Uni Köln.
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Nun kommt solche Sprachpolitik – selbst bei einem Bekenntnis zur Freiwilligkeit
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– nicht ohne das Werturteil aus, dass der bisherige Sprachgebrauch eben
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diskriminierend ist, dass also diejenigen, die traditionell sprechen, andere
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herabwürdigen.
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Dieses Urteil dürfte nun beim halbwegs geneigten Publikum besser funktionieren,
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wenn es sich, grob gesagt, von unten nach oben richtet, also einen Angriff auf
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bestehende Machtverhältnisse darstellt. Wenn es aber von oben nach unten
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geht, also als Vorgabe daherkommt, liegt die Sache anders. In dem Augenblick
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verlässt die emanzipative Sprachpolitik den charmanten Bereich des
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Experiments, sie wird gemessen mit dem Maßstab für andere Sprachpolitiken mit
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Herrschaftsanspruch.
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Das bekannteste Beispiel dafür dürfte immer noch „Newspeak“ sein, die stark
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regulierte Sprache in George Orwells Roman „1984“, mit der das Regime von
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Ozeanien seine Herrschaft festigen will.6 Das ist natürlich eine Fiktion, die aber
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der Wirklichkeit – damals vor allem den kommunistischen Regimes – entlehnt
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wurde. Es gibt kaum eine plastischere Illustration, dass und wie Regierungen an
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der Sprache arbeiten, um Zustände schönzureden.
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Orwells „Newspeak“ zeigt aber auch einen grundlegenden Widerspruch der
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Sprachkritik: SprachkritikerInnen nehmen einerseits die Sprache so wichtig, so
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das Argument, weil sie so prägend sei, dass es kein Denken ohne Sprache geben
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könne. Andererseits nehmen sie doch für sich selbst in Anspruch, über einen
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Raum der Erkenntnis jenseits der Sprache zu verfügen. Sonst wären sie ja nicht
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so schlau.
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In der klassischen Sprachkritik in der Tradition etwa eines Karl Kraus, die nach
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den wahren Verhältnissen hinter den Begriffen sucht, wurden nun auch
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Generationen von tazlerinnen und tazlern geschult. Das Instrumentarium kennen
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wir – die fröhliche oder auch beißende Ironie, die feine Nase für Stilblüten und so
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weiter. Die Wahrheit-Seite ist quasi die taz-eigene Instanz für eine Tradition der
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Sprachkritik, die stets auch Ideologiekritik war.
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Die Grundlage für diese Art Kritik ist immer das Motto: Ihr glaubt nicht im Ernst,
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dass wir euch das glauben, oder? Das heißt: Wir behaupten, dass wir die
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Wirklichkeit erkennen und sie besser beschreiben können, als der von oben
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vorgegebene Wortschatz es zulassen möchte.
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Wir stoßen also in eine Lücke, die sich zwischen Realität und angebotenen
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Begriffen aufgetan hat. Wir behaupten, die Worte entsprächen nicht der Realität,
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und kritisieren diese Worte deshalb: „So dürft ihr das nicht nennen.“
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In dem Augenblick, da emanzipative Sprachpolitik zu einer von einem „Oben“
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gesetzten Norm wird – und vieles sieht aktuell schon danach aus –, wird sie sich
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genau diesem Vorwurf aussetzen müssen: dass sie Wirklichkeiten konstruiert, die
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viele nicht als die ihren begreifen.
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Dass zum Beispiel die sprachliche Schwarz-Weiß-Konstruktion oder die
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Begrifflichkeit People of Colour/POC beziehungsweise BIPoC nicht die
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Wirklichkeiten der migrantischen und postmigrantischen Communitys erfasst.
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Mein Lieblingsbeispiel dafür, dass emanzipative Sprachpolitik nicht immer als
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emanzipativ verstanden wird, ist übrigens die Verblüffung der Ostfrauen nach der
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Wende, die erst einmal gar keine Lust hatten, sich nun Traktoristin oder Dreherin
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zu nennen. Sie meinten, sie seien Traktorist oder Dreher. Die weibliche Endung
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„-in“ schien ihnen ein Rückschritt in westdeutsche Verhältnisse, in denen Frauen
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der Illusion anhingen, durch sprachliche Betonung des Weiblichseins ihre
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offensichtliche Unterlegenheit kompensieren zu können.
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Zu dieser Kritik an der Sprachpolitik gehört auch der Vorwurf, dass eine
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beschleunigte Produktion von emanzipativen Wortschöpfungen und
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Begrifflichkeiten ein fast ausschließlich akademisches Sprachspiel sei. Man sollte
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ihn ernst nehmen. Der Versuch, eine neue, inklusive Sprache hervorzubringen,
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kann nur ein Avantgardeprojekt sein, so viel ist klar.
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Mir aber fehlt eine angemessene Berücksichtigung der Kollateralschäden, die
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solch ein Projekt mit sich bringt, wenn es die Avantgarde verlässt.
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Diskriminierungsfreie Sprache könnte dann umso mehr als Elitenprojekt
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verstanden werden, das wenig bis nichts mit dem Sprachalltag der allermeisten
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Menschen ohne Hochschulabschluss zu tun hat.
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Ich möchte daher gern dafür plädieren, das Bemühen um faire Sprache als ein
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Projekt zu begreifen, das zwar emanzipativ gemeint sein kann, aber nicht von
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allen als emanzipativ verstanden werden muss.
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Die feministische Sprachpolitik ist von dem Prinzip durchdrungen, dass
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Gemeintes nicht unbedingt Verstandenes sein muss: „Du wolltest mich vielleicht
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nicht ausschließen, als du gerade nur die männliche Form benutzt hast – aber
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weil ich mich ausgeschlossen fühle, hast du es getan.“
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Wenn jedoch Fortschritt heißt, dass Gemeintes und Verstandenes bisweilen
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entkoppelt ist, dann gilt das auch in andere Richtungen. Dann kann das auch
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Nachteile, Folgen haben – etwa die, dass es verschiedene Sprachwelten und
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-realitäten gibt, in denen wir uns orientieren müssen.
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Spätestens dann, wenn emanzipative Sprachpolitik Mainstream oder sogar
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Gesetz und Vorgabe wird, müssen wir damit rechnen, dass sie sich einer Kritik
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auch von linker oder aufklärerischer Seite stellen muss. Man darf damit rechnen,
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dass Teile des Publikums das gut Gemeinte gar nicht als Fortschritt verstehen,
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sondern womöglich als diskriminierend.
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Ich halte das für ein klassisches Dilemma. Mein Vorschlag wäre, das Bemühen
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um diskriminierungsfreie Sprache in dem Raum zu lassen, in dem es in der taz
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die längste Zeit war: keine Vorgaben, so wenig Urteile wie möglich, verwoben
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mit der Fähigkeit zur Selbstironie.
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Was dabei hilft: die prägende Kraft der Sprache aufs Denken hoch einzuschätzen
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– doch nicht zu überhöhen.

Anmerkungen zur Autorin:
Ulrike Winkelmann (*1971) ist Journalistin und seit Sommer 2020 zusammen mit Barbara Junge Chefredakteurin der taz.
Aus: Winkelmann, Ulrike (08.02.2021): Sprache als Experiment, letzter Zugriff am 14.08.2024.
Sprachliche Fehler in der Textvorlage wurden entsprechend der geltenden Norm korrigiert.

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